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Gestalttherapie in der klinischen Praxis


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      Die gestalttherapeutische Diagnose konzentriert sich auf die Art des In-Kontakt-Tretens zwischen der PatientIn und ihrer Umwelt und beschreibt die Prozesse, die an der Kontaktgrenze11 ablaufen. Bei einem gesunden Kontakt gibt es eine flüssige Kontaktsequenz, eine Abfolge von Kontaktnahme und Rückzug aus dem Kontakt. Wenn diese Prozesse blockiert sind, wird der Kontakt als ungesund angesehen (Korb / Gorrel / Van de Riet 1989). Die Kontaktsequenz kann ein Abfallen der Intentionalität oder Verluste von Spontanität aufweisen, die ursprünglich als Kontaktunterbrechungen oder Kontaktstörungen bezeichnet wurden (Perls / Hefferline / Goodman 1951, 2006) und die man heute oft als Kontaktmodifikationen darstellt (siehe Kapitel 23 über Angst). Die Gestalttherapie untersucht, wie und wann sie auftreten können. Sie lehrt uns, diese Kontaktmodifikationen wahrzunehmen, wenn sie rigide angewandt werden und eine breite Palette von Kontaktmöglichkeiten anzubieten, um die Beziehung zu unterstützen (Perls / Hefferline / Goodman 1951, 2006; Salonia 1989c; Spagnuolo Lobb 1990; Robine 2006a).

      Eine gestalttherapeutische Auslegung eines Beziehungsleidens hat verschiedene theoretische Instrumente an der Hand:

      1. Figur/Hintergrund-Dynamik,

      2. das Selbst und seine Funktionen: Ich-, Es- und Persönlichkeitsfunktion,

      3. Intentionalität und die Unterbrechung des Kontakts (Kontaktstile und Kontaktsequenz),

      4. Abschnitte im Lebenszyklus,

      5. existenzielle und spirituelle Fragen,

      6. Hintergrund und Geschichte der Beziehung (Familie, Paar, Gesellschaft),

      7. der nächste Schritt im Kontakt und in der Beziehung: Auf welches beziehungsorientierte Erleben bewegt sich das Subjekt zu?

      Hier ist jedoch Vorsicht angesagt. Wenn partielle Modelle aus der Gestalttherapie für die Diagnosestellung verwendet werden (z. B. die Kontaktsequenz und die Kontaktstile), besteht das Risiko, dass der Versuch, die klinische Situation zu erfassen, den theoretischen Grundlagen der Gestalttherapie zuwiderläuft. Es macht z. B. kaum einen Unterschied, ob man eine PatientIn als »depressiv« oder als »Introjektor« bezeichnet. In beiden Fällen gibt man ihr die Bezeichnung »dort« und ignoriert den wesentlichen Beitrag des gestalttherapeutischen Ansatzes, nämlich die Offenheit gegenüber Begegnungen und das Vertrauen auf den Prozess. Brownell (2010a, 190) stellt die Frage: »Wie sprechen wir über die PatientIn, ohne der PatientIn zu schaden?«

      Es ist die phänomenologische Realität des Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung, des Kontakts zwischen TherapeutIn und PatientIn, die die Grundlage der gestalttherapeutischen diagnostischen Methodologie darstellt. Diese Realität ist der Bezugsrahmen, auf den die TherapeutIn bei der Diagnosestellung zurückgreifen sollte. Modelle müssen auf dieser Realität aufbauen, um eindeutig zum gestalttherapeutischen Ansatz zu gehören und keine Mischung aus anderen Theorien zu sein, die, so stichhaltig sie auch sein mögen, auf anderen epistemologischen Prinzipien basieren (Spagnuolo Lobb 2001a, 90). In der Gestalttherapie ist eine Diagnose ein Versuch, Beziehungsleiden zu erfassen, ohne es als Charakteristikum eines Individuums zu betrachten.

      Konzeptuelle gestalttherapeutische Werkzeuge ermöglichen es uns, das Erleben hervorzuheben, zu benennen und zu kommunizieren. Auf diese Weise wird das Erleben der PatientIn übersetzt – wenngleich es unweigerlich auch verraten wird. Dieses Paradoxon ist dennoch hilfreich: Die Wahrheit unserer Worte – und Diagnosen – beruht auf der Tatsache, dass sie durch das Kontakterleben ko-konstruiert werden. Das wird in der Gestalttherapie betont. Durch die Diagnose, die sich daraus ergibt, wird nichts über den Menschen ausgesagt; sie betrifft die Beziehungsphänomene, die ko-kreiert wurden, und repräsentiert den Ausdruck und die Bewertung der Beziehung, nicht des Individuums. Obwohl es schwierig sein mag, sich im Rahmen innerhalb eines beziehungsorientierten Paradigmas zu bewegen, ist dies der Horizont, auf den wir uns entschieden zubewegen sollten.

      3.5. Wie eine extrinsische Diagnose entsteht

      Die TherapeutIn hat die Fähigkeit, im Laufe des therapeutischen Prozesses ihren Fokus zu verlagern. In einem Moment konzentriert sie sich auf die Beziehung mit der PatientIn und arbeitet auf einen vollständigen Kontakt hin. Dann kann sie den Fokus auf den »Dritten« verlagern (in diesem Fall eine Beschreibung der Bedeutung der Situation) und zielt nun auf Orientierung und Verstehen ab. Selbst bei der Diagnosestellung kann die TherapeutIn nicht außerhalb der Beziehung zu der PatientIn sein. Wenn sie jedoch eine extrinsische Diagnose stellt, ist es ihre Intention, sich vorübergehend zurückzuziehen, um sich zu orientieren.12 Die TherapeutIn nimmt sich vorübergehend und bewusst Zeit, damit sich ihre Achtsamkeit organisieren kann und sie deren Bedeutung benennen kann.13 Auf diese Weise stellt sie eine extrinsische Diagnose: Sie zeichnet eine Landkarte vom Gebiet der klinischen Situation.14

      Die PatientIn und die TherapeutIn durchwandern das komplexe Gebiet der klinischen Situation nicht alleine. Da ist auch noch ein drittes Element: die Landkarte, die verfügbar ist, wenn sie zur Orientierung gebraucht wird, und die dafür sorgt, dass sich TherapeutIn und PatientIn nicht im Kreis drehen. Die Landkarte entsteht unterwegs. Die TherapeutIn markiert viele verschiedene Zeichen und Symbole auf der Landkarte. Sie stammen aus zwei Quellen: aus der Beobachtung der PatientIn und ihrem Kontext und aus der Achtsamkeit der TherapeutIn.

      Phänomenologische Beobachtung liefert Informationen über die PatientIn: ihr Aussehen, ihre körperliche Struktur, ihr Ausdruck, wie sie sich kleidet, wie sie spricht usw. Weitere Informationen liefern die Anamnesedaten, entweder von der PatientIn selbst oder aus anderen Quellen (medizinische Berichte von der HausärztIn, von der PsychiaterIn oder von Verwandten der PatientIn). Die TherapeutIn erfährt vieles über die Familie der PatientIn, über die Geschichte ähnlicher Probleme bei ihren Verwandten, über die Qualität der Beziehungen innerhalb der Familie, über die frühere und aktuelle soziale Situation der PatientIn, über bestehende Beziehungen, über die Entwicklung ihres Leidens, über Behandlungen, denen sie sich bereits unterzogen hat usw. All diese Daten stellen eine der Quellen dar, mit deren Hilfe eine Diagnose als eine Arbeitshypothese formuliert wird. GestalttherapeutInnen sollten über genügend klinische Erfahrung verfügen, um die phänomenologische Beobachtung bewerten und Anzeichen eines schweren Leidens bei der PatientIn erkennen zu können (depressiv, psychotisch, abhängig usw.).

      TherapeutIn und PatientIn tauschen mehr aus als nur Informationen. Sie reagieren aufeinander und wiederholen weitgehend ihre gewohnten Muster des In-Beziehung-Tretens. Dabei handelt es sich um eine notwendige Phase im therapeutischen Prozess, für die sich die TherapeutIn nicht zu kritisieren braucht. Im Gegenteil: Sie erlebt persönlich, wie das Beziehungsfeld der PatientIn üblicherweise organisiert ist und wie es in ihrer Anwesenheit erneut durchgespielt wird. Alles, was die TherapeutIn erfährt und was sie tut, ist eine Funktion des Feldes und kann als diagnostische Information verwertet werden. Die TherapeutIn beobachtet interessiert, was ihr im Kontakt mit der Patientin passiert, und nutzt ihre Achtsamkeit (eigene Gefühle, Gedanken, körperliche Wahrnehmungen und Impulse im Beisein der PatientIn) als Informationsquelle.

      Die TherapeutIn befindet sich ununterbrochen in Beziehung mit der PatientIn, doch der Fokus ihrer Arbeit verändert sich. Sie konzentriert sich entweder auf das In-Beziehung-Sein und lässt sich vom intrinsischen Diagnoseprozess leiten (siehe unten in diesem Kapitel). Oder sie fokussiert sich auf den/die Dritte(n), eine extrinsische Diagnose, einen Supervisor usw. (siehe auch das Kapitel über Psychopathologie).15 Wenn sie sich auf den/die Dritte(n) konzentriert, nutzt die TherapeutIn all die Informationen, die sie einerseits aus der Beobachtung der PatientIn und ihres Kontextes und andererseits aus ihrer eigenen Achtsamkeit abgeleitet hat. Sie wartet ab, bis sich die Informationen zu einem bedeutungsvollen großen Ganzen organisieren und gibt ihm einen Namen. Auf diese Weise stellt sie eine extrinsische Diagnose, die ihr hilft, aus den sich wiederholenden fixen Mustern der Feldorganisation auszusteigen und Wege zu finden, einen gesunden Kontakt zu unterstützen. Auf diese Weise wird die Diagnose zu einer therapeutischen Chance (Baalen 1999).

      Paul ist ein 50-jähriger Mann mit einer langen Geschichte psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung. Er befindet sich in einer Langzeittherapie und nimmt Antidepressiva und Anxiolytika. Er kommt nun zu einer Sitzung und berichtet, dass sich sein Zustand deutlich verschlechtert habe, es gehe ihm