1. Persönliches Vorwort
Vor mehr als 40 Jahren habe ich angefangen, als Psychotherapeut zu arbeiten. Einen großen Teil meiner seither vergangenen Lebenszeit habe ich mit meinen Klientinnen und Klienten1 verbracht. Die Menschen, die ich in meiner Praxis empfangen habe, waren sehr unterschiedlich; es handelte sich um Frauen und Männer, um jüngere und ältere, um solche, die in ihrem Leben eigentlich ganz gut klar kamen, aber in irgendeiner Weise noch etwas für sich verbessern wollten, oder um solche, denen kaum etwas zu gelingen schien und die mehr oder weniger verzweifelt versuchten, den Kopf über Wasser zu halten.
Jede und jeder von ihnen hat mich auf eine bestimmte Weise angesprochen und damit eine Antwort hervorgerufen, die – auch wenn sie in manchen Fällen vom Wortlaut her einer Antwort ähnelte, die ich schon in anderen Fällen gegeben hatte – jeweils einmalig war, weil sie aus unserer jeweils gemeinsamen Situation heraus an eine ganz bestimmte Person gerichtet war, mit der mich eine jeweils unverwechselbare Beziehungsgeschichte verband. So habe ich nicht nur zahlreiche und manchmal überraschende Erfahrungen damit gesammelt, wie Menschen sich auf mich beziehen können, sondern ebenso zahlreiche Erfahrungen damit, wie ich mich auf andere Menschen beziehen und welche Selbste ich dabei aktualisieren kann. Das war für mich immer wieder überraschend, anregend und bereichernd.
Unabhängig von all diesen Unterschieden war dabei die grundlegende Konstellation der Rollen zwischen meinen Klienten und mir natürlich immer dieselbe: Sie wandten sich an mich als jemanden, von dem sie professionelle Hilfe in ihrer subjektiv schwierigen Lage erwarteten und den sie dafür bezahlten, dass er ihnen seine Zeit und seine therapeutische Kompetenz zur Verfügung stellte. Aber trotz dieser grundlegenden Asymmetrie zwischen den Beteiligten blieb es nur mit ganz wenigen Menschen bei einem reinen Dienstleistungsverhältnis. Die gemeinsame Beschäftigung mit den Sorgen meiner Klientinnen ließ häufig Atmosphären zwischen ihnen und mir entstehen, die von zwischenmenschlicher Nähe geprägt waren.
Das geschah häufig in einem Maß, über das wir beide den objektiv weiterhin bestehenden Dienstleistungscharakter unserer Beziehung zeitweilig vergaßen. Ich fühlte mich dann eher wie ein Gastgeber, der einen vorübergehend Zuflucht vor den Strapazen des Lebens Suchenden aufnahm und betreute. Manche meiner Klienten – man könnte sie vielleicht auch »Gäste« nennen – beschrieben mir später aus ihrer Sicht, dass sie das Zusammensein mit mir wie den Aufenthalt in einem Refugium erlebt hatten, in dem sie sich geborgen fühlen und erholen sowie Kräfte sammeln und Fähigkeiten entwickeln konnten, die es ihnen dann möglich machten, sich ihrem Leben auf neue Weise auszusetzen und zu stellen.
Beispiel aus der Praxis 1
Zur Vorgeschichte: Mein Klient B. wandte sich an mich anlässlich einer heftigen Ehekrise, in deren Verlauf er sich vorläufig von seiner Frau getrennt und vorübergehend eine eigene Wohnung bezogen hatte. Aus seiner Sicht hatte sich die Krise über mehrere Jahre hinweg entwickelt und nunmehr unübersehbar zugespitzt. Er sah den Grund dafür hauptsächlich in der Tatsache, dass seine Frau und er selbst sich überwiegend der Erziehung und Versorgung ihrer Kinder gewidmet und dabei ihre partnerschaftliche Beziehung vernachlässigt hatten. Seine Frau erschien ihm nur noch als fürsorgliche Mutterfigur, die dabei für ihn an weiblicher Attraktivität verlor, was ihn dazu verleitete, sich gelegentlich auf heimliche Affären mit anderen Frauen einzulassen.
Für seine Frau waren diese Affären, von denen sie manche durch Zufall entdeckte, sehr belastend und völlig unakzeptabel. Sie fühlte sich dadurch nicht nur gekränkt und entwertet, sondern auch in ihrem großen Engagement für die Familie missachtet und bestraft. Mein Klient selbst erklärte seine Seitensprünge nicht nur mit der zwischen ihm und seiner Frau verloren gegangenen erotischen Spannung, sondern auch und besonders damit, dass er das Gefühl hatte, mit seinen – nicht nur sexuellen – Wünschen und Sorgen bei ihr unwillkommen zu sein. Sie bestätigte das im gewissen Sinne, weil sie sich ohnehin schon viel zu sehr in der fürsorglichen Rolle sah und sich weigerte, zusätzlich ihm gegenüber in diese Rolle zu geraten. Dadurch fühlte er sich wiederum abgelehnt und hatte den Eindruck, sie interessiere sich nicht mehr wirklich für ihn.
In unseren ersten Gesprächen wirkte er auf mich recht offen und zugewandt, erwähnte wiederholt, wie sehr ich ihm empfohlen worden sei, und ließ sich emotional recht bereitwillig auf meine Fragen und Vorschläge ein. So hatte ich nach unseren anfänglichen Kontakten jedes Mal einen recht zufriedenstellenden Eindruck von dem Verlauf der Sitzungen. Nach ein paar Begegnungen fiel mir allerdings auf, dass er ein paarmal das jeweils folgende Gespräch damit begann, dass er – zu meiner wiederholten Überraschung – irgendetwas an der vorangegangenen Sitzung bemängelte. In der Mehrheit der Fälle griff er eine Bemerkung von mir auf, die ich bei dem früheren Treffen gemacht hatte, die er nun aber auf eine Weise wiedergab, die mich verwunderte und mir nicht im Einklang damit zu stehen schien, wie wir uns miteinander zuvor verständigt hatten.
Die ersten zwei, drei Male antwortete ich ihm auf seine Kritik, indem ich einfach nur erläuterte, wie ich meine von ihm nunmehr problematisierte Bemerkung seinerzeit gemeint hatte. Damit gab er sich jeweils zufrieden und wandte sich seinem aktuellen Anliegen zu. Der weitere Verlauf der Sitzung war nach meinem Eindruck dann wiederum kooperativ und fruchtbar. Dennoch wiederholte sich seine rückblickende Kritik immer wieder – bis mir deutlich wurde, dass es sich hier wohl um ein Muster handelte, das sich nicht durch Klärung der jeweiligen Einzelheiten verstehen oder auflösen ließ. Also sprach ich ihn bei nächster Gelegenheit auf die Regelmäßigkeit seiner kritischen Äußerungen an, ohne auf den Inhalt seiner Bemerkung einzugehen.
Der alarmierte und misstrauische Blick, mit dem er auf meine Beobachtung reagierte, traf mich mit verblüffender Wucht. Das meldete ich ihm zurück, und es entwickelte sich zwischen uns ein Dialog, in dem u. a. Folgendes deutlich wurde: Seine kritischen Äußerungen zu Beginn unserer vorangegangenen Sitzungen waren für ihn eine Art Überprüfung gewesen, durch die er feststellen wollte, ob ich ihm zugewandt bleiben würde, wenn er sich nicht nur ›pflegeleicht‹ und kooperativ verhielt, sondern mich auch mit seinen Sorgen und Zweifeln ›belastete‹. Durch meine ruhigen, klärenden Antworten hatte sich dann für ihn die Möglichkeit erschlossen, sich vorbehaltlos mitzuteilen, ohne das Desinteresse oder die Ablehnung befürchten zu müssen, die er in der Beziehung mit seiner Frau häufig empfand.
Die positiven Ergebnisse dieser von ihm praktizierten ›Einzelprüfungen‹ hatten es ihm zwar erlaubt, sich auf die jeweils anstehende Arbeit mit mir einzulassen, seine grundlegende Angst, mit seinen Nöten unerwünscht zu sein, hatte sich damit aber noch nicht aufgelöst. Er betonte, wie sehr er darunter litt, sich nicht vorbehaltlos anvertrauen und anlehnen zu können. Stattdessen diffamierte er sich seine Sehnsucht nach Unterstützung und Halt als ›infantil‹ und verbot sich, sie zum Ausdruck zu bringen. Durch die Beschreibung seines Leidens klang eine große Sehnsucht hindurch, die mich berührte und auf die ich antwortete: »Mir ist es viel lieber, Sie wenden sich an mich mit dem, was Sie bedrückt, selbst wenn es vielleicht einmal belastend für mich ist, als wenn Sie sich zusammenreißen und dadurch eine Kluft zwischen uns entsteht.«
Die Tränen schossen ihm in die Augen; er weinte für ein paar Minuten in intensiver, aber weicher Weise. Dann wurde er ruhiger, schaute zu mir auf und sagte mit einer wunderschönen Herzlichkeit: »Danke.« Es folgten einige Minuten der Stille zwischen uns, während derer wir uns immer wieder freundlich zulächelten. In mir machte sich ein starkes Gefühl von Verbundenheit und Verständnis breit. Ich meinte, ihn ›gesehen‹ zu haben, und fühlte mich von ihm ›gesehen‹.
Seitdem blieben seine kritischen Anmerkungen am Anfang unserer Stunden aus.
Solche Begegnungen mit ihren dichten Atmosphären waren es nach meinem Eindruck in besonderer Weise, die einerseits meinen Klienten wichtige Schritte in ihren Veränderungsprozessen möglich werden ließen und die andererseits für mich selbst sehr wertvoll waren, weil ich durch sie die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit meiner Arbeit besonders deutlich spüren konnte – mehr noch: Durch sie fühlte ich mich persönlich erfüllt. An diesen Atmosphären beteiligt zu sein und die Möglichkeiten mitzuerleben, die sich für meine Klientinnen daraus ergaben, war – bei aller Notwendigkeit, meinen Lebensunterhalt zu verdienen – für mich der eigentliche