Frank-M. Staemmler

Relationalität in der Gestalttherapie


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die Jahre hindurch immer wieder mit den oft durchaus bestürzenden Leidensgeschichten meiner Klienten zu beschäftigen und mich den damit verknüpften, häufig bedrückenden Stimmungen auszusetzen. Denn mein Verständnis von Psychotherapie verbietet es mir, eine so distanzierte Haltung einzunehmen, dass mich die Erlebnisse meiner Klientinnen nicht berühren und, in gravierenden Fällen, nicht auch mitnehmen würden. Gerade weil sich die Aufgabe eines Psychotherapeuten aber nicht auf das Erleben von Mitgefühl beschränken kann, wird der von Freud (1937/1975, 388) so genannte »unmögliche Beruf« immer wieder zur Herausforderung: »Psychotherapie muss der obstinate Versuch zweier Menschen bleiben, die Ganzheit der Existenz durch ihre Relationen zueinander wiederherzustellen« (Laing 1969, 46 – H.i.O.2).

      Was den Beruf des Psychotherapeuten dennoch so bereichernd sein lässt, hat für mich entscheidend mit der Dimension der Beziehung zwischen meinen Klientinnen und mir zu tun: Ich genieße das Privileg, mich mit ihnen in einer Weise beschäftigen zu können, die für mich auf besondere Weise sinnvoll und befriedigend ist. Denn meine Tätigkeit als Psychotherapeut gestattet mir, einen großen Teil meines beruflichen Lebens in Verbundenheit mit anderen Menschen und in Fürsorge für sie zu verbringen. So sehr es von außen betrachtet den Anschein haben mag, als engagierte ich mich hauptsächlich für meine Klienten, so sehr tue ich dabei ständig auch viel für mich selbst und für mein eigenes Wohlbefinden.

      Das Erleben von Resonanz und Verbundenheit – ungeachtet der jeweiligen Einzig- und Andersartigkeit meiner Klientinnen – sowie die Haltung der Gastlichkeit und Fürsorge sind dabei neben dem Erwerb von Anerkennung und der Erfahrung von Selbstwirksamkeit die für mich maßgeblichen Faktoren. Die Wünsche nach resonanten Beziehungen und eigener Wirksamkeit hängen dabei eng zusammen:3 Wie viele meiner Kollegen freue ich mich daran, »dass ›so viel zurückkommt‹; dass sie fühlen, wie sie etwas zu bewegen und zu bewirken vermögen, das von Bedeutung ist; oder dass es ihnen gelingt, gleichsam ›eine Spur zu hinterlassen‹ oder ›einen Unterschied zu machen‹« (Rosa 2016, 276 – H.i.O.).

      Das Befriedigende liegt darin, dass es sich bei therapeutischen Beziehungen, so wie ich sie verstehe und einzugehen versuche, um »Antwort-« und »Resonanzbeziehungen«, wie Rosa (2016) sie nennt, handelt, in denen es viel weniger darauf ankommt, ob die jeweils vorherrschenden Stimmungen und Gefühle immer angenehm oder erfreulich sind, sondern viel mehr darauf, dass die Beteiligten bereit sind, sich dem Erleben des jeweils anderen empathisch zuzuwenden, sich davon berühren zu lassen, und dann spüren können, dass ihre eigene Art der Präsenz den anderen erreicht. So werden zwischenmenschliche Verbindung und Anteilnahme positiv erfahrbar, selbst wenn die aktuellen Emotionen, wie z. B. Schmerz, Trauer oder Verzweiflung, negativ gefärbt sein mögen.

      Ich erlebe in meinem Beruf mit meinen Klientinnen fast täglich am eigenen Leib jene wichtigen Aspekte menschlicher Beziehungen, von denen die Psychotherapieforschung herausgefunden hat, wie wesentlich sie dafür sind, dass Menschen mit ihrem Leben, mit anderen und mit sich selbst besser zurechtzukommen lernen. Auch wenn ich in einer anderen Funktion an den Beziehungen mit meinen Klienten beteiligt bin als diese es mit mir sind, unterscheiden wir uns nicht darin, dass wir gleichermaßen in fundamentaler Weise darauf angewiesen sind, von anderen gesehen, verstanden und anerkannt zu werden, und uns miteinander in bedeutsamer Weise verbunden zu fühlen. Meine Subjektivität lebt von unserer gemeinsamen Intersubjektivität genauso wie die ihre.

      Aus dieser Gemeinsamkeit speist sich daher meine vorrangige, gleichermaßen allgemein-menschliche wie berufliche Motivation: Weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie hilfreich es in allen möglichen Lebenslagen ist, sich mit all dem, was man erlebt und denkt, vertrauensvoll an andere wenden zu können und sich bei ihnen damit willkommen zu fühlen, ist es mir ein großes Anliegen, dazu beizutragen, dass diese Erfahrung gerade für jene erreichbar bzw. häufiger zugänglich wird, die sie in ihrem bisherigen Leben zu selten machen konnten und auf diese Weise sowohl die Verbundenheit mit anderen als auch wichtige Aspekte ihrer selbst nicht genügend erlebt haben. Kaum etwas scheint mir wert- und sinnvoller, als anderen dabei zu helfen, dass sie ihre Beziehungen mit Partnerinnen, Angehörigen, Freunden oder Kolleginnen möglichst befriedigend gestalten können.

      Mit dem vorliegenden Buch wende ich mich überwiegend an Kolleginnen, denen ähnliche Beweggründe am Herzen liegen. Vielleicht kann ich ihnen mit den folgenden Überlegungen einige Anregungen geben, die sie für ihre therapeutische Arbeit zum eigenen Nutzen und zu dem ihrer Klienten gebrauchen können. Ich werde zu diesem Zweck von meinen eigenen Erfahrungen als Psychotherapeut sowie von den Erfahrungen meiner Klienten in der Therapie berichten; ich werde Gedanken mitteilen, die ich mir anlässlich dieser Erfahrungen gemacht habe, und ich werde auf Mitteilungen Bezug nehmen, die andere Kolleginnen und Autoren in persönlichen Gesprächen und in Veröffentlichungen zu den hier relevanten Fragen gemacht haben.

      Allen auf die eine oder andere Weise am Entstehen dieses Buches Beteiligten danke ich für die Anregungen, die ich von ihnen erhalten habe. Dass die Klientinnen, mit denen ich mich in den vergangenen vier Jahrzehnten beschäftigt und durch die ich so viel gelernt habe, hier an erster Stelle anerkennend zu nennen sind, dürfte nach dem bisher Gesagten nachvollziehbar sein und nicht als Floskel missverstanden werden. Mein spezieller Dank geht hier an diejenigen von ihnen, die mir die Erlaubnis gegeben haben, Begebenheiten zu schildern, die ich mit ihnen in unseren Sitzungen erlebt habe. (Diese Berichte habe ich selbstverständlich so abgefasst, dass die Anonymität meiner Klienten gewahrt bleibt.)

      Die vielen Ausbildungs- und Fortbildungsteilnehmerinnen, die mich mit ihrem Wissensdurst und ihren zahllosen Fragen stimuliert haben, möchte ich hier ebenso dankend erwähnen wie jene Kollegen, mit denen ich in dieser Zeit in engem Austausch stand. Dazu gehören nicht nur meine Freundin Lynne Jacobs und mein Freund Rolf Merten, sondern u. a. auch die Herausgeberin des British Gestalt Journal, Christine Stevens, und ihre Mitarbeiter sowie die mir namentlich nicht bekannten peer reviewers, die in den letzten zwei Jahrzehnten viele meiner Artikel kompetent begutachtet, bei Bedarf konstruktiv mit mir diskutiert und zur Veröffentlichung empfohlen haben – u. a. einen Text, der gewissermaßen den Entwurf für das vorliegende Buch darstellte (vgl. Staemmler 2016a).

      Außerdem richtet sich meine Dankbarkeit an die vielen Verfasserinnen von Büchern und Artikeln, die sich die unter Kollegen nicht immer angemessen gewürdigte Mühe gemacht haben, ihre Gedanken und Erfahrungen aufzuschreiben und sie mir (und anderen) zur Verfügung zu stellen. Ihnen fühle ich mich, obwohl ich sie in den meisten Fällen persönlich nicht kenne, verbunden, was ich mit der Erwähnung ihrer jeweiligen Schriften zum Ausdruck bringen möchte.

      Ein ganz besonderer Dank geht an meine Lebenspartnerin Barbara, die mich schon ein paar Jahre länger begleitet als meine Klienten und Kolleginnen und die mir mehr als jeder andere Mensch ermöglicht hat, auf lebendige Weise zu lernen, was es bedeutet, in Beziehung zu sein – in liebevollem Engagement, ohne falschen Schein und mit gegenseitiger Achtung unserer jeweiligen Würde.

      Schließlich möchte ich einen schon lange verstorbenen Kollegen würdigen, den ich persönlich nicht kennenlernen konnte, weil er starb, bevor ich geboren wurde: Hans Trüb (1889–1949), der ein Schüler C. G. Jungs und ein Freund Martin Bubers war. Mit seinem 1951 posthum erschienenen Buch Heilung aus der Begegnung – Überlegung zu einer dialogischen Psychotherapie4 gehört er zweifellos zu den ersten Psychotherapeuten, die sowohl die grundsätzliche Bedeutung menschlicher Relationalität als auch deren Relevanz für die Psychotherapie klar erkannt und eindrücklich in Worte gefasst haben. Gemessen daran wurde er bislang aus meiner Sicht viel zu wenig bekannt und anerkannt. Dem möchte ich in diesem Buch, so weit es mir möglich ist, dadurch etwas entgegensetzen, dass ich den einzelnen Kapiteln jeweils ein Zitat aus Heilung aus der Begegnung voranstelle.

      »Theoretische Ergänzungen« und »Beispiele aus der Praxis«

      Im Weiteren habe ich immer wieder Textboxen in den Haupttext einfügt, die durch ihren grau gefärbten Hintergrund und eine andere Schrifttype leicht zu erkennen sind. Sie enthalten entweder »Beispiele aus der Praxis« – eines davon haben Sie schon weiter oben gelesen – oder »Theoretische Ergänzungen« und sollen interessierten Lesern zur Illustration bzw. Erläuterung oder Vertiefung meiner im Haupttext formulierten Überlegungen dienen; sie sind aber zu deren Verständnis nicht unbedingt erforderlich.