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Kontakt als erste Wirklichkeit


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mit der Welt in allen Berührungspunkten, in denen der Mensch mit der Welt zusammentreffen kann. (Martin Buber in: Rogers & Buber 1992, 201)

      Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass die Gestalttherapie, so wie sie von Perls, Hefferline und Goodman am Anfang der 1950er-Jahre entworfen wurde, nicht nur zur damaligen Zeit innovativ war, sondern bis heute eine prominente Stellung in der zeitgenössischen Avantgarde der Psychotherapie einnimmt. Natürlich gab es eine Vielzahl von Mängeln, die der kritischen Überprüfung bedurften und viele Gestalttherapeuten angeregt haben, zahlreiche Bücher und Artikel zu verfassen, in denen sie die Theorie der Gestalttherapie weiterentwickelten. Doch die bahnbrechenden Grundlagen, die von Perls et al. (1951; dt. 2 Bd.: 2006, 2007) seinerzeit geschaffen wurden, waren aus meiner Sicht die entscheidende Voraussetzung für die nachhaltige Vorreiterrolle der Gestalttherapie auf dem Gebiet der Psychotherapie.

      Der andere und das Selbst – Du und Ich

      Als einschlägiger Beleg und als besonders wichtiges Beispiel für diese Behauptungen kann die folgende Feststellung gelten, die man bereits im ersten Absatz des Grundlagenwerks der Gestalttherapie findet:

      »Der Kontakt selbst ist die erste und unmittelbarste Wirklichkeit« (Perls et al. 2006, 21).

      In diesem Satz spiegelt sich ein Verständnis von Psychotherapie im Besonderen und darüber hinaus von Psychologie im Allgemeinen, das zu der Zeit, als es formuliert wurde, revolutionär war.2 Es hatte allerdings zunächst mehr den Charakter einer Hypothese als den einer ausgearbeiteten Theorie. Perls et al. überließen es ihren Nachfolgern, ihren Ansatz detailliert theoretisch auszuarbeiten und mit den Ergebnissen wissenschaftlicher und philosophischer Untersuchungen zu untermauern, etwa mit denen der Säuglingsforschung oder der Phänomenologie. So war es z. B. Lynne Jacobs, die mit Rückgriff auf solche Quellen die ursprüngliche Feststellung paraphrasierte:

      Die grundlegende Annahme ist, dass jede Subjektivität intersubjektiv ist, d. h. dass jede Erfahrung ein ko-emergentes Phänomen einander überlagernder Subjektivitäten darstellt. … Es gibt kein Selbst, das der Beziehung vorausgeht, kein Selbst existiert vorgängig zu oder unabhängig von der es umgebenden Umwelt. (2005, 45)

      – bzw. unabhängig von einem Anderen, wie man zur Unterstreichung des für den psychotherapeutischen Bereich wesentlichen Punktes hinzufügen könnte. Perls et al. haben es sogar noch radikaler und allgemeiner ausgedrückt, als sie »das ›Selbst‹ als System der Kontakte in jedem Augenblick« (2006, 31) definierten und dabei nicht nur an den zwischenmenschlichen Bereich dachten, sondern auch an den sozialen, biologischen und physikalischen.

      Im Folgenden möchte ich mich allerdings auf das personale Selbst konzentrieren (im Unterschied zu dem, was man als »organismisches Selbst« bezeichnen könnte, das jedoch nur einen Teil des Ganzen ausmacht) sowie auf seine Kontakte mit anderen Personen, weil dies der Bereich ist, auf den sich in der Psychotherapie der überwiegende Teil der Aufmerksamkeit richtet. Denn die Kontakte zwischen Menschen sind zweifellos viel mehr als nur physische Kontakte; sie schließen die gegenseitige Anerkennung als Personen ein, d. h. die Würdigung des jeweils Anderen nicht nur als Körper, sondern als »Leib«, der ebenso über eine eigene Perspektive und einen eigenen Geist verfügt wie ich selbst, die Wahrnehmung des jeweils Anderen als eines interdependent Handelnden sowie schließlich die Wertschätzung für seinen eigenständigen Beitrag zur gemeinsamen Schaffung von Bedeutung und Sinn – kurz: Persönliche Kontakte zwischen Menschen sind intersubjektive Ereignisse.

      Der Begriff der Intersubjektivität als solcher taucht im Buch »Gestalttherapie« allerdings nicht auf, auch wenn viele der zentralen Gedanken, aus denen sich das Konzept der Intersubjektivität zusammensetzt, bereits darin zu finden sind. In Anspielung auf und im Widerspruch zu Descartes’ berühmt-berüchtigtem Diktum »cogito, ergo sum« könnte man, um Intersubjektivität plakativ zu charakterisieren, mit Altmeyer sagen: »Videor, ergo sum« (2003, 261) – ich werde gesehen, also bin ich. Das Selbst entsteht in den Augen des Anderen; es ist sowohl entwicklungspsychologisch als auch prinzipiell immer sekundär; der Andere ist primär: »Der Mensch wird am Du zum Ich«, hat Buber (1936, 36) kurz und knapp festgestellt; der Andere ist schon immer im Selbst enthalten.3

      Durch die Blicke des Du, der anderen Person, die mich anblickt und anspricht, werde ich mir meiner selbst als ein erlebendes Subjekt bewusst.

      In den Blicken des Du, einer zweiten Person, die mit mir als einer ersten Person spricht, werde ich meiner nicht nur als eines erlebenden Subjekts überhaupt, sondern zugleich als eines individuellen Ichs bewusst. Die subjektivierenden Blicke des Anderen haben eine individuierende Kraft. (Habermas 2005, 19)

      Dazu gehört notwendigerweise auch, dass ich sehe, wie ich angeschaut werde. »Das Blickverhalten ist in seiner spezifischen Wechselseitigkeit (mutualité) für die Entwicklung der menschlichen Kommunikation und Persönlichkeit von zentraler Bedeutung. … Weil menschliche Augen ›sprechen‹ können und sie dem Gegenüber ein fundamentales Erkennen vermitteln – ›Das bist Du!‹« (Petzold 1995, 442 – Hervorhebung im Original).

      Ein Selbst zu sein, d. h. Subjektivität, beruht auf der Bezogenheit auf Andere und entwickelt sich im Kontakt mit ihnen. Die Anderen, die von ihrer eigenen Perspektive aus gesehen gleichfalls Selbste sind, werden vice versa auch ihrerseits nur durch den Kontakt mit Anderen zu dem, was sie jeweils sind. Das Selbst und der Andere können nur in Gegenseitigkeit existieren; ihr Wesen ist durch und durch intersubjektiv. Manche Philosophen und Wissenschaftler nehmen sogar an, dass Bewusstsein im Allgemeinen auf Intersubjektivität beruht: »Der Kern allen menschlichen Bewusstseins scheint in einem unmittelbaren, nicht-rationalen, nicht-sprachlichen, völlig untheoretischen Potenzial für den Rapport des Selbst mit der Psyche eines Anderen zu bestehen« (Trevarthen 1993, 121).

      Trevarthen, der hauptsächlich Entwicklungspsychologe ist, hat bei dieser Feststellung die ersten Lebensjahre im Auge. Die intersubjektive Dimension des Bewusstseins geht jedoch auch im Erwachsenenleben nicht verloren. Wie ein östlicher Philosoph, der Intersubjektivität als »Zwischen-Sein« bezeichnet, sagt,

      sind unsere bewussten Akte nicht ausschließlich von uns selbst bestimmt, sondern auch von den Anderen. Das bedeutet keineswegs, dass es sich um einen ›Austausch‹ von ansonsten einseitigen intentionalen Handlungen drehte, die zwischen Menschen hin- und hergehen. Vielmehr gibt es nur eine ›Verbindung‹, die von beiden Beteiligten bestimmt wird. Innerhalb einer Beziehung des ›Zwischen-Seins‹ durchdringen darum die jeweiligen bewussten Erfahrungen der Beteiligten einander. (Watsuji 1934, zitiert nach Arisaka 2001, 200 – Hervorhebungen von mir)

      Mit westlicher Sprache gesagt, kann man

      … sich Bewusstsein … denken … als sozialen Akt: Ich habe ein Erlebnis, aber auf intersubjektivem Weg erfasse ich intuitiv, wie der andere mein Erleben sieht. Nun gibt es zwei Perspektiven in Bezug auf mein Erleben, und ich erlange ein Bewusstsein anderer Art, das ich intersubjektives Bewusstsein nennen möchte. Bewusstsein ist somit nicht unbedingt das Werk meines eigenen Gehirns; es kann die Leistung meines und jemandes anderen Gehirns sein. Das gehört zum Leben in einer intersubjektiven Matrix dazu, welche eine implizite Erfahrung bewusst werden lässt, weil sie öffentlich ist und reflektiert werden kann. Aber diese Art Bewusstwerdung ist anders als die übliche. (Stern et al. 2006, 38 f. – Hervorhebung von mir)

      So unüblich diese Form der Bewusstwerdung im Alltagsleben auch sein mag (ich meine allerdings, sie ist gar nicht so selten) – innerhalb der intersubjektiven Matrix mit ihren Therapeuten dürfte sie die häufigste Art für Klienten darstellen, sich bislang impliziter Dimensionen ihres Erlebens bewusst zu werden.

      Kontakt als primordiale, verkörperte Bedingung des Menschseins

      Daniel Sterns Einsichten können noch einige weitere, speziell anthropologische Aspekte des Kontaktgeschehens zwischen Menschen beleuchten, die Perls et al. als »erste Wirklichkeit« bezeichnet haben: Stern versteht Intersubjektivität nämlich als eine »Bedingung des Menschseins« und vertritt

      die Ansicht, dass sie zudem ein angeborenes, primäres Motivationssystem darstellt,das für das Überleben der Art unverzichtbar ist und einen ähnlichen Status