Hans Peter Dreitzel

Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust


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Vernunft vertrauen könnten.

      In diesem Buch stütze ich mich vor allem auf zwei Philosophen, Ken Wilber und Peter Sloterdijk, die sich diesem Verdacht zu entziehen suchen, beziehungsweise über ihn hinaus denken wollen. Wer heute über Entwicklung nachdenkt, kommt am Werk von Ken Wilber nicht vorbei. Wie kein Zweiter hat Wilber den Versuch unternommen, die verschiedenen vorliegenden Entwicklungstheorien systematisch zusammenzufassen, und damit eine Entwicklungsperspektive geschaffen, die es so seit Hegel nicht mehr gegeben hat. Vielleicht ist es die List der Vernunft, auf die Hegel im Zweifelsfall gern vertraute, dass Ken Wilber das Produkt einer Kultur ist, der man oft nachgesagt hat, dass ihr die Idee des Tragischen fremd sei. Sein Werk strahlt bei aller Vorsicht und Differenzierung einen ungebrochenen Optimismus aus, wie man ihn heute wohl nur noch in den USA und dort besonders westlich des Mississippi findet. Was man aus europäischer Sicht vielleicht als einen Mangel an differenziertem Geschichtsbewusstsein kritisieren würde, könnte sich als ein Glücksfall erweisen, denn Wilbers Entwicklungsdenken, so scheint es mir, findet aus der deprimierenden Beliebigkeit der Postmoderne heraus, ohne in die naiven Fortschrittshymnen des 19. Jahrhunderts zurückzufallen. Dazu trägt auch sein unerschrockener Versuch bei, endlich auch im Westen den Erkenntnisweg der subjektiven Selbsterforschung durch disziplinierte Formen der Meditation als eine legitime Form der hermeneutischen Erkenntnissuche zu etablieren. Wilber nennt seine Philosophie eine integrale Theorie, und das ist, worauf sich der Begriff integral im Untertitel dieses Buches bezieht.

      Während der erste Teil des Buches sich hauptsächlich auf gestalttherapeutische Einsichten stützt, bezieht sich der zweite Teil eher auf Ken Wilbers integrale Entwicklungstheorie. Der dritte Teil des Buches dagegen verdankt sich letztlich meiner eigenen buddhistischen Lebenspraxis, die für mich stets eine Fortsetzung und Vertiefung der Achtsamkeitspraxis der Gestalttherapie war, in der ich ja nicht nur als Therapeut und Lehrer, sondern über dreißig Jahre hinweg auch als Lernender in zahlreichen Lehr-Workshops teilgenommen habe. Aber angeregt und ermutigt wurde ich zu diesem letzten Teil des Buches von Peter Sloterdijks Denken, insbesondere von seinem 2009 erschienenen Buch Du musst dein Leben ändern – Über Anthropotechnik. Es ist weniger die Fülle der Einzelanalysen als der Grundgedanke und der kühne Entwurf einer grundlegend neuen anthropologischen Perspektive, die mich überzeugt hat, den Menschen generell als ein übendes Wesen zu sehen.

      ■ Bleibender Hintergrund meines Denkens sind darüber hinaus bis heute meine Lehrjahre bei dem Philosophen Helmuth Plessner und bei dem Gestalttherapeuten Isadore From geblieben. Ihnen bin ich weiterhin zu Dank verpflichtet wie auch den vielen Kollegen und Supervisanden, mit denen ich im Laufe der Jahre arbeiten durfte. Wolfgang Kötter danke ich für die wiederholte energische Aufforderung, meine Gedanken zu diesem Thema zu Papier zu bringen, die mich sehr ermutigt hat, und ganz besonders auch für das Angebot, die letzte Korrektur des Manuskripts zu übernehmen Thomas Rieger danke ich für unsere Gespräche und sein Nachwort, das in seiner unverhohlenen, heute selten gewordenen, sozialistischen Perspektive einen spannenden Blick auf meine Gedankengänge wirft.

      Ohne die Zusammenarbeit mit meiner Frau Brigitte Stelzer-Dreitzel gäbe es dieses Buch nicht.

      Hans Peter Dreitzel

      Hohenpeissenberg, August 2013

      Einleitende Frage: Was ist ein gutes Leben?

      Hinter jeder Psychotherapie-Richtung steht ausgesprochen oder unausgesprochen ein Menschenbild. Immer gibt es eine manchmal explizite, oft aber nur implizite Vorstellung davon, was einen »gesunden«, psychisch nicht gestörten Menschen ausmacht, was also auch das Ziel der psycho-therapeutischen Bemühung sein sollte. So auch in der Gestalttherapie, der Schule, in der ich als Psychotherapeut ausgebildet worden bin und der ich mich angeschlossen habe – nicht zuletzt, weil mich ihr Menschenbild überzeugt hat.

      Auch in der Gestalttherapie ist dieses Menschenbild eher in ihren Vorstellungen von Neurosen versteckt, als dass es in ihrer Literatur deutlich dargestellt und erörtert worden wäre – mit Ausnahme des letzten Abschnitts von PHG,1 betitelt: Das Kriterium – nämlich für psychische Gesundheit (PHG, 333 f.).

      Aus diesem Text und aus dem gestalttherapeutischen Ansatz insgesamt entnehme ich die wichtigsten Elemente, aus denen sich das Menschenbild der Gestalttherapie zusammensetzt. Wie bei anderen Therapie-Richtungen ist dieses Menschenbild im Grunde einfach das, was übrig bleibt, wenn die psychischen Störungen überwunden und geheilt sind, unter denen diejenigen Menschen leiden, die sich einem Psychotherapeuten anvertrauen. Auch wenn man, wie es die Gründer der Gestalttherapie getan haben, davon ausgeht, das neurotische Verhaltensweisen Anpassungen an ein gestörtes, ja krankhaftes Gesellschaftssystem sind, so setzt die Gestalttherapie dem die Möglichkeit von kreativen Anpassungen entgegen. Man darf diesen gestalttherapeutischen Begriff nicht als passive Anpassung an den jeweiligen Status quo missverstehen. Vielmehr heißt es bei PHG: »Wir sprechen von der kreativen Anpassung als von der wesentlichen Funktion des Selbst«, und zu der gehören »die schöpferischen Funktionen der Selbstregulation, die für das Neue, für die Zerstörung und Neuintegration der Erfahrung offen sind« (PHG 2006, 49). Und Perls verdeutlichte: »Der Prozess der schöpferischen Anpassung an neues Material und neue Umstände schließt immer auch eine Phase der Aggression und der Zerstörung mit ein, denn nur durch Annäherung, Vereinnahmung und Veränderung neuer Strukturen wird Ungleiches gleich gemacht.« (PHG 1985, 15). Angewandt auf das Projekt eines gelingenden Lebens heißt das mit anderen Worten:

      Das gute Leben im schlechten gesellschaftlichen System ist der schöpferische Widerstand gegen die schlechten herrschenden Zustände; ein gesundes Leben ist ein rebellisches Leben.

      ■ Tatsächlich ist die Frage berechtigt, ob es unter den Bedingungen der großen globalen Krise der kapitalistischen Gesellschaften, in der wir heute leben, ein gutes Leben überhaupt geben kann (H. P. Dreitzel 2009). Hier ist die Beobachtung von Bedeutung, dass Menschen, die sich in praktischer Arbeit und eigenem Engagement gegen die Verwüstungen stemmen, die der unkontrollierte Kapitalismus an der Natur und an den Menschen anrichtet, durchweg glücklicher und zufriedener in ihrem Leben zu sein scheinen, als diejenigen, die resigniert aufgegeben haben oder die immer gleichgültig gegenüber dem Leid anderer geblieben sind. Es geht hier also nicht um ein moralisches Argument, sondern um ein pragmatisches: Es lebt sich besser und gesünder, wenn man im Widerstand lebt. Dies ist jedenfalls der Fall, wenn der Widerstand als sinnvoll erlebt wird. Und damit dies der Fall sein kann, müssen die Ziele als prinzipiell realisierbar erlebt werden, und darüber hinaus auf die Kräfte und Ressourcen der Betroffenen abgestimmt sein. Eine wichtige, oft unabdingbare Hilfe dabei ist die Solidarität einer Aktionsgruppe: Man ist nicht allein, nutzt die Kräfte der wechselseitigen Unterstützung und der Intelligenz der Organisation.

      Es lässt sich dies auch umgekehrt sagen: unter den Bedingungen der Welt-Krise kann man ein gutes, das heißt ein einigermaßen zufriedenes und als sinnvoll erlebtes Leben nur führen, wenn die eigene Vitalität, die individuelle Lebenskraft, auch in einen kreativen Zorn einfließt, der sich auf die Veränderung der lebensfeindlichen ökonomischen Systeme und der verholzten soziobürokratischen Strukturen richtet. Das ist, was die Gestalttherapie gesunde Aggression nennt.

      Allerdings muss dazu erst einmal die Vitalität freigesetzt werden, die durch die Verhakung in neurotische Prozesse ständig energetisch geschwächt wird.

      Je weniger dies der Fall ist, desto eher – so das »Kriterium« von Perls und Goodman –

      – »verringert sich die Erregung nicht, sobald Hindernisse gegenüber dem schöpferischen Prozess auftauchen;

      – bleibt die Gestaltbildung nicht stecken, sondern man erlebt spontan neue aggressive Gefühle und aktiviert neue Ich-Funktionen der Vorsicht, Besonnenheit oder Aufmerksamkeit, wie es die Hindernisse erfordern.

      – verliert man dabei nicht das Gefühl für sich selbst als synthetische Einheit, sondern es wird immer schärfer; man identifiziert sich damit immer mehr und sortiert das aus, was nicht zu einem gehört.

      Im Gegensatz dazu schwankt die Erregung bei einer Neurose an dieser Stelle hin und her,

      – die Aggression