Hans Peter Dreitzel

Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust


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gespalten, abgestumpft.

      Dieser faktische Unterschied, der in einem fortgesetzten, ununterbrochenen schöpferischen Prozess besteht, ist das entscheidende Kriterium für Vitalität oder Neurose.« (PHG 333/334, Kursivierungen und Einrückungen von HPD).

      Es gibt also sehr wohl ein Kriterium dafür, wie ein psychisch gesundes Leben auch unter den Lebensbedingungen möglich ist, die uns der globalisierte, digitale Kapitalismus auferlegt – jedenfalls in den Gesellschaften, in denen die Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse nach Nahrung, Trinkwasser und Obdach gesichert ist. Und nur in einem solchen gesellschaftlichen Kontext sind meine weiteren Überlegungen zu verstehen.

      ■ Aber ist ein psychisch gesundes Leben auch ein glückliches oder gar ein »gutes« Leben? Ein solches gehörte freilich niemals zu den Versprechen der Psychotherapie, jedenfalls nicht der tiefenpsychologisch orientierten. Freud war da ja eher pessimistisch: Die berühmte Formel »Aus Es muss Ich werden« bedeutete für ihn ja nicht etwa die Befreiung zu einem hedonistischen, rein lustvollen Leben, sondern die Anerkennung des »Realitätsprinzips«, nach welchem es ohne Anpassung an die gesellschaftlichen Normen kein befriedetes Leben geben kann. Das war bei Freud (auch angesichts der Katastrophe des Ersten Weltkriegs) bereits das Höchste des Erreichbaren. Das erwachsene Leben kann nicht einfach dem »Lustprinzip« folgen, menschliche Reife erweist sich für Freud in der Fähigkeit zu Triebaufschub, Triebunterdrückung und Sublimation.

      Die Katastrophe erwies sich in der Folge als noch steigerbar: Adorno formulierte seinen berühmt-berüchtigten Satz »Es gibt kein gutes Leben im schlechten« angesichts der Erfahrung von Auschwitz. Dieser Satz aber lebt heimlich von der Utopie, deren Scheitern er sich verdankt – der Vorstellung nämlich, menschliches Leben könnte irgendwann und irgendwie einfach »heil« werden, also ohne selbst gemachtes Leid. Diese Illusion ist freilich erst mit der Säkularisierung christlicher Erlösungsvorstellungen in der Philosophie des deutschen Idealismus, vor allem bei Hegel, in die Welt gekommen. Das Projekt des guten Lebens aber ist eine vorchristliche Idee der Antike, die vor allem mit den Namen Epikur und Seneca verbunden ist.

      ■ Gestalttherapie setzt allerdings nicht darauf, die Menschen »glücklich« zu machen im Sinne von bloßer Zufriedenheit oder gar Erlösung vom Leid. Sie glaubt aber, dass der Entfaltung des Lebens mit allen seinen Potenzialen ein Gutes innewohnt. Fritz Perls setzte, angeregt von dem Philosophen Jan Christiaan Smuts und dem Gestaltpsychologen Kurt Goldstein, an die scheinbar dem Leben selbst innewohnende Tendenz zum Ausgleich der Widersprüche zum Gleichgewicht an. Während der anarchistische Zug in Paul Goodmans Denken ihn zu der Überzeugung brachte, dass die unterschiedlichen individuellen und gesellschaftlichen Kräfte und Bestrebungen sich am besten selbst regulieren. So waren diese beiden bedeutendsten Begründer der Gestalttherapie auf unterschiedlichen Wegen zu der gemeinsam vertretenen Ansicht gelangt, dass das Leben, wenn sein Wachstum weder von außen noch von innen gestört wird, von allein zu einem befriedigenden, reifen Gleichgewicht tendiert. Dieser Gedanke von Wachstum enthält jedoch noch keine Idee von Entwicklung!

      Aber »jede Störung des organismischen Gleichgewichts verursacht eine unvollständige Gestalt, eine unvollendete Situation, die den Organismus zwingt, kreativ zu werden, um die Balance wieder herzustellen« (F. Perls 1980, 84). Solche Störungen können von außen kommen (selbst wenn sie wie bei Introjekten so erlebt werden, als ob sie innen seien), dann handelt es sich – in der saloppen Sprache von Perls – um »unfinished business«, eine offene Gestalt, die geschlossen werden muss; oder sie können von innerhalb des Organismus kommen, dann handelt sich um die Es-Funktionen des Selbst, d. h. um Triebe, Bedürfnisse und Interessen, die befriedigt sein wollen. Ist der Hunger gestillt, der Trieb befriedigt, die Gestalt geschlossen, dann befindet sich der Organismus in einem Zustand des relativen Gleichgewichts, der Homöostase, der lustvoll als Sättigung, Befriedigung oder Erfüllung erlebt wird, auch wenn dieser Zustand nie anhält, stets nur von relativ kurzer Dauer ist. Gelingt es uns, unsere Triebe, Bedürfnisse und Interessen immer wieder ausreichend zu befriedigen, dann werden wir uns vorübergehend zufrieden und glücklich fühlen. Für Friedrich Perls war der Gedanke der Homöostase, nach welchem »offene Gestalten« sich durch eine Tendenz zu ihrer Schließung auszeichnen, zentral, denn er passte zu der Entdeckung der Gestalt-Psychologie.

      Bei PHG aber taucht der Gedanke des Gleichgewichts nicht mehr auf; hier wird das Leben implizit bereits realistischer als ein Fluss aufgefasst, in der jedes Gleichgewicht sich sofort wieder auflöst. Das war hellsichtig, denn inzwischen hat sich das Verständnis, das die Biologie vom Leben hat, deutlich verändert: Heute ist klar, dass Leben aus einer immer prekären, ständig sich konfliktreich austarierenden Balance zwischen Chaos und Ordnung entsteht. »Das Miteinander von Chaos und Ordnung bildet das eigentliche Schöpfungspotenzial der Natur«, sagt der Medizin-Forscher Friedrich Cramer. Leben wächst – und vergeht auch; und es entwickelt sich (F. Cramer, 1997; vgl. dazu auch Teil I, 1, »Die Erfahrung am Leben zu sein«). Aber es war wohl nicht einem moderneren Verständnis von der Natur des Lebens geschuldet, dass der Gedanke des Gleichgewichts keine Rolle mehr spielte. Vielmehr lag es einfach daran, dass Paul Goodman hier die bei Perls noch fehlende soziologische Perspektive mit einbrachte. Er wusste, dass befriedigende Kontaktprozesse ohne Scham nur in einer freien Gesellschaft gelingen können, und ohne Schuldgefühle nur, wenn wir unsere Mitmenschen auf diesem Weg mitnehmen. Die »sättigende Erfahrung«, wie ich in Reflexive Sinnlichkeit I das gestalttherapeutische Modell der gelingenden Kontaktprozesse zwischen Mensch und Umwelt genannt habe (H. P. Dreitzel, 2007a, Kapitel II), ist also die Grundlage jedes befriedigenden, zum Glück tendierenden Lebens. Es muss aber, um als ein »gutes Leben« bestimmt werden zu können, noch zweierlei hinzukommen:

      – der Kampf gegen das, was unsere Lebenskräfte fesselt und erstickt, und

      – das Teilen der »Lebens-Mittel«, wie Karl Marx sie so treffend genannt hat, die wir für die sättigenden Prozesse brauchen, mit anderen Menschen.

      ■ Beides verschafft uns eine eigene, zusätzliche Freude: Es gibt eine Lust, die im Bemühen um den Abbau überholter Vorstellungen von Charakter und von unnötigen Tabus entsteht, und eine Lust an der Gemeinsamkeit des Kampfes und am Verschenken des Überflusses – geteilte Freude ist doppelte Freude. Und es ist die Erfahrung von Sinnhaftigkeit unseres Handelns, die unseren Tätigkeiten, selbst wenn sie mühevoll und anstrengend sind, ihr eigenes Glück verleiht. Diese Erfahrung muss zur Erfahrung der Befriedigung unserer Bedürfnisse hinzukommen, um von einem »guten Leben« sprechen zu können, denn in ihr löst sich das Individuum aus seiner egozentrischen Vereinzelung und öffnet sich zu einer Verantwortung für seine Mitmenschen.

      Wie das im Einzelnen aussehen könnte, hat zur Zeit am besten der »Transformationsdesigner« Harald Welzer in seinem Buch »Selbst denken – Eine Anleitung zum Widerstand« beschrieben (H. Welzer, 2013). Dieser Autor hat sich wie kein anderer im deutschen Sprachraum mit der Frage beschäftigt, welche individuellen und gemeinschaftlichen Handlungsspielräume uns in der gegenwärtigen Situation bleiben, welche Möglichkeiten des Widerstands es heute gegen die scheinbar unaufhaltsame Wachstumsdynamik der kapitalistischen Märkte gibt, wie überhaupt die ethische Dimension eines guten Lebens praktisch gestaltet werden kann.

      Die Antworten, die die Philosophie auf die Frage danach, was ein »gutes Leben« sein könnte, entwickelt hat, haben sich von Anfang an in diesem Spannungsbogen zwischen individuellem Glück und mitmenschlicher Verantwortung bewegt. In der Antike ist es die Schule der Epikuräer, die sich am meisten um die Frage nach dem menschlichen Wohlbefinden gekümmert hat. Für Epikuros (im Folgenden nach L. Marcuse 1972 zitiert), den griechischen Begründer dieser Schule, war das höchste Gut das Glück. Und dieses Glück bestand für ihn nur aus zwei Elementen. Erstens lehrte er: »Jede Erregung körperlichen Vergnügens lässt eine Lust und Freude der Seele aus sich hervorgehen.« (85). Da ist er schon, der sättigende Prozess als Grundlage des Glücks! Zweitens aber lehrte er: »Ohne Freundschaft gibt es kein vollkommenes Glück.« Ja, er meinte sogar: »Ohne die Gesellschaft eines Freundes zu essen ist bestialisch.« (74). Seine Wertschätzung der Freundschaft geht schließlich so weit, dass er, dreihundert Jahre vor Jesus, zu dem Schluss kam: »Geben ist seliger denn nehmen.« (74)

      Epikur lebte zurückgezogen in einem Garten bei Athen, der aber stets für alle unabhängig