Cornelia Rüdisüli

Spielen und Lernen verbinden - mit spielbasierten Lernumgebungen (E-Book)


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deutlich intuitivere Bedienbarkeit – gerade durch jüngere Kinder – zurückzuführen sein. Für die als erzieherisch wertvoll angesehenen digitalen Spiele, die sogenannten «educational games» (auch «serious games») können also Vorteile vermutet werden.

      Die besten Wirkungen zeigen sich für digitale Spiele, die mit anderen Instruktionsmethoden ergänzt werden (Wouters & van Oostendorp, 2013; Wouters et al., 2013). Diese Wirkungen sind am stärksten bei Kindern und halten bis ins frühe Erwachsenenalter an. Sie sind stark bei Spielen zum Spracherwerb, deutlich weniger wirksam für Mathematik. Zudem zeigten sich deutlich höhere Effekte bei mehrfachem als bei einmaligem Spiel und bei Spielen in einer Gruppe statt allein. Die Befunde, wonach die Kombination aus Spielen und Instruktionsmethoden die besten Wirkungen erzielen, gelten auch für nichtdigitale Spiele. So fanden Siraj-Blatchford & Sylva (2004) die stärksten Lernerträge in frühpädagogischen Institutionen für eine ausgewogene Kombination von kindinitiierten und lehrpersongeführten Aktivitäten.

      4.1 Freispiel, offener Unterricht, Selbstregulation

      In frühpädagogischen Institutionen verbringen Kinder etwa die Hälfte ihrer freien Spielzeit mit mathematik- oder wissenschaftsorientierten Aktivitäten. Die Kinder stellen beispielsweise mit verschiedenen Materialien Muster her; sie zeichnen sie; sie zählen Objekte ab, ordnen und nummerieren sie; sie messen verschiedene Objekte und Substanzen (Flüssigkeiten, Geld, Steine, Sand, Spielsachen, Ausdehnungen, Menschen usw.) und versuchen, deren Quantität zu benennen; sie versuchen, Objekte in kategoriale Gruppen (wie Gemüse, Obst, Fische, Vögel usw.) einzuordnen und zu klassifizieren (Ginsburg & Ertle, 2008; Sarama & Clements, 2009). Diese Jahre andauernde tägliche – in der Regel spielerische − Beschäftigung mit natürlichen Gesetzmässigkeiten in den ersten Lebensjahren führt bei ausreichender Vertiefung in die Phänomene zu beachtlichen Lernwirkungen. So finden sich nachhaltige Lernerträge sogar bei benachteiligten Vorschulkindern durch tägliches Spiel mit Bauklötzen («building blocks»; Sarama & Clements, 2009). Zudem zeigen Kinder umso bessere Kompetenzen in Mathematik vom Kindergarten bis zum Gymnasium, je mehr sie in der Vorschulzeit mit Klötzen gespielt habten (Wolfgang et al., 2003). Im konstruierenden Spiel erwerben Kinder viele funktionale Kompetenzen, z. B. über die Gesetzmässigkeiten ineinandergreifender Zahnräder (Reuter & Leuchter, 2019; siehe auch den Beitrag in diesem Band). Allerdings klappt das nicht bei allen Kindern. Gerade im freien Spiel lernt ein beachtlicher Teil der Kinder zu wenig (Slot, 2014).

      Das Freispiel wird oft als Heiligtum behandelt oder als Lernmedium an sich stark mystifiziert. Die normative Setzung und der Glaube, wonach Erwachsene sich tunlichst aus dem Freispiel heraushalten und nur höchst zurückhaltend allenfalls etwas ermöglichen sollten, hält sich nun schon mehr als 100 Jahre (Elschenbroich, 2001). Jüngere Befunde zeigen aber, dass das Freispiel viele Schwächen aufweist: So ist es zuweilen ein Herd für Mobbing und unfaire Hänseleien (Alsaker, 2004), oder es kommt in wenig oder nicht geführten Gruppen zu ungünstigen Gruppendynamiken – zum Beispiel durch überdominante Kinder (Fried, 2004). Beides beeinträchtigt den sozialen und kognitiven Lernprozess nachhaltig. Vor allem nutzen zu viele Kinder gerade in diesen (unbegleiteten) Freispielphasen die Zeit wenig ertragreich und widmen sich (zu) wenig herausfordernden Tätigkeiten, wie Slot (2014) in ihrer Studie mit zweieinhalb- bis vierjährigen Kindern zeigen konnte. Bedeutsam sind dabei die Nachteile des Freispiels für bildungsferne Kinder, vor allem bei der Entwicklung des Wortschatzes, der kognitiven Kompetenzen und der Aufmerksamkeit. Dies insbesondere deshalb, weil sie oft zu lange herumwandern (vgl. De Haan et al., 2013; Dickinson et al., 2013) und weil dabei Erwachsene nur selten mit den Kindern interagieren und dieses Spiel damit auch kaum begleiten (Lesemann et al., 2001, Powell et al., 2008).

      Das Problem der mangelhaften Nutzung der eher freien Lernangebote ist auch für die Schule, zum Beispiel für das Lernen im Wochenplan- oder Werkstattunterricht, belegt, wobei in den entsprechenden Studien auch deutlich wird, dass diese Unterrichtsformen vor allem für leistungsschwächere Lernende die grössten Nachteile bergen (Niggli & Kersten, 1999). Das heisst nicht, dass diese eher freien Angebote nicht eingesetzt werden sollen, sondern nur, dass dies insbesondere bei leistungsschwächeren Kindern gezielter geschehen sollte.

      Alle diese Befunde legen nahe, dass vor allem Kinder mit noch wenig entwickelter Selbstregulation im Freispiel und in anderen eher freien Unterrichtsformen (Werkstatt-, Plan- und Projektunterricht sowie Lernlandschaften) benachteiligt sind. Die Befunde zeigen auch eindrücklich, dass Spiel kein Selbstläufer ist und dass die Idee, Freispiel und eher offene Unterrichtsformen seien umfassende Mittel zur Förderung der selbstbildenden Kräfte, weitgehend ein Mythos ist (vgl. Fthenakis, 2004). Kinder mit guter Selbstregulation hingegen nutzen freie Spielsituationen mit Bauklötzen oder Konstruktionsmaterialien mit grosser Konzentration und fordern sich dabei selbst heraus. Kinder ohne diese Fähigkeit benötigen zuerst Unterstützung im Aufbau der Selbstregulation (Whitebread et al., 2015). Selbstregulation entwickelt sich jedoch nicht von selbst – auch im Spiel nicht; Impulse kontrollieren, teilen, warten können und vieles mehr bedarf einer liebevollen, erklärenden, aber auch konsequenten Erziehung, die laufend zur Selbstkontrolle anhält, diese immer wieder einfordert und sie auch immer wieder bestätigt (Bauer, 2015). Es braucht aber auch verlässliche Erwachsene; Erwachsene also, die einmal gegebene Versprechen oder Ankündigungen auch einhalten (Kidd et al., 2012). Erheblich weniger Selbstregulation als im freien Spiel erfordern geführte (Regel-) Spiele, weil diese durch ihr Regelwerk vieles schon vorgeben.

      4.2 Geführte Regelspiele

      Durch Regelspiele können gesellschaftlich relevante Kompetenzen sehr gut erworben, gefestigt oder verbessert werden. Regelspiele können auch sehr gut auf unterschiedliche Kompetenzen zugeschnitten werden. Sie ermöglichen dadurch ein sehr spezifisches Üben. Ein gutes Beispiel dafür ist der Fachbereich Mathematik. Für diesen gesellschaftlich bedeutsamen Bereich wurden in den letzten 15 Jahren viele Spiele und Spielsettings entwickelt, adaptiert und erforscht. Dabei zeigte sich, dass spielintegriertes Lernen oft nachhaltigere Lernerträge ermöglicht als herkömmliche Formen des Mathematikunterrichts. Derartige positive Wirkungen konnten für folgende Spiele nachgewiesen werden:

      • Das Leiterspiel fördert Zählkompetenzen schon ab dem dritten Lebensjahr (Ramani & Siegler, 2008).

      • Das Kartenspiel Fünferraus (eine Vereinfachung des Elferraus) fördert grundlegende ordinale Kompetenzen (Kamii & Kato, 2005) im sechsten Lebensjahr.

      • Numerische Domino-Spiele fördern im vierten bis sechsten Lebensjahr frühe numerische Kompetenzen (Brankaer et al., 2015) wie die Zuordnung von strukturierten Punktmengen zu Zahlen.

      • Spielsets mit einfachen, teils kommerziell erhältlichen, teils adaptierten oder selbst entwickelten Würfel-, Karten- und Brettspielen fördern eine ganze Reihe von frühen Kompetenzen im Kindergartenalter: Mengenvergleich bis 20, ordinale und kardinale Kompetenzen bis 10, erste Mengengruppierungen sowie Additionen (Hauser et al., 2014; Vogt et al., 2018; Gasteiger 2013).

      • Das Brettspiel «The great race» (Spiel mit 10 Feldern mit den Zahlen 1−10) fördert den linearen Zahlbegriff im vierten Lebensjahr (Siegler & Ramani, 2009).

      Allerdings zeigten sich diese Befunde in der Regel nicht in freiem Spiel, sondern in Formen des geführten beziehungsweise angeleiteten Spiels, in denen die Kinder nicht wählen konnten, ob sie Mathematik-Spiele oder andere Spiele spielen konnten (Hauser et al., 2014; Fisher et al., 2011). Derartig geführte Spiele sind deshalb wichtig für ertragreiches mathematisches Lernen möglichst vieler Kinder.

      4.3 Elaboration und hohe Erwartungen: Kinder sind keine Gräser

      Eine interessante und hierzulande immer wieder heftig geführte Diskussion ist die Auseinandersetzung um die Frage, ob bei den Kindern «der Knopf schon noch aufgeht» oder ob für das Lernen hohe Erwartungen und die Anleitung zu intensivem Lernen ertragreich ist. Oft wird diese Debatte ziemlich dogmatisch geführt, meist aber ohne empirische Befunde als Grundlage. Behauptungen wie diejenige, wonach Kinder wie Gräser seien, die auch nicht schneller wachsen würden, wenn man daran ziehe (z. B. Largo