religiöser Traditionen. Wenn Menschen einer Religion folgen und dadurch moralische Regeln übernehmen, beruht die Begründung für diese Regeln nur auf einem Glauben. Doch damit erfüllen die Religionen zugleich eine durchaus hilfreiche Rolle, indem sie das verwirklichen, was die Kraft der Vernunft nicht in jedem Menschen zu wecken vermag. Kant drückt diesen Gedanken so aus:
»Der Mensch hat nicht solche feine Organisation, durch objektive Gründe bewogen zu werden, es ist keine Feder von Natur, die da könnte aufgezogen werden, solches hervorzubringen. Allein wir können doch einen habitum hervorbringen, der nicht natürlich ist, aber doch die Natur vertritt, der durch die Nachahmung und öftere Ausübung zum habitu wird.« (S. 55)
In eine modernere Sprache übersetzt: Die meisten Menschen lassen sich in ihrem Handeln nicht durch vernünftige Gründe, sondern durch Gewohnheiten (habitum) leiten. Gewohnheiten sind keine natürlichen Ursachen (z.B. bedingt durch die Gehirnstruktur oder das menschliche Genom), keine – wie Kant sagt – »Feder von Natur«. Sie werden durch die Erfahrung ausgebildet und können insofern gesteuert oder verändert werden. Darin liegt die Möglichkeit einer moralischen Erziehung.
Menschen stehen in der Moderne viele Informationen zur Verfügung. Auch wenn die Religionen weiterhin wichtig bleiben, spielen sie in der Ausbildung von kulturellen Gewohnheiten keine zentrale Rolle mehr – wenigstens in Europa. Die moralische Erziehung übernehmen vielfach Medien, die Vorbilder erzeugen und Gewohnheiten durch Moden, durch Nachahmung ausbilden. Dennoch – die bessere Schulbildung der Menschen in der Neuzeit ist dafür prinzipiell ein Garant – bleiben auch die Vielen, die »breite Masse« der Menschen, Argumenten zugänglich. Man muss ihnen diese Argumente allerdings auch anbieten. Argumente setzen Informationen voraus, auch Kenntnisse und Erfahrungen. In einer Gesellschaft, die sich damit schmückt, eine »offene Gesellschaft« zu sein, ist wenigstens prinzipiell der Gedanke verwirklicht, dass Argumente Priorität vor allen Anreizsystemen haben.
Allerdings ist hier kritisch anzumerken, dass dieses Ideal nicht nur weltweit nicht realisiert ist, sondern auch in Demokratien immer mehr unterminiert wird – durch Lobbyismus, politische PR, die an Propaganda erinnert, durch allmächtige Geheimdienste und eine Fülle medialer Lügen. Wer darauf abzielt, die argumentative Ebene bewusst zu umgehen, wer von vorneherein Menschen nur als Anreizobjekte betrachtet, ihnen faktisch also durch sein Handeln Vernunft abspricht, der ignoriert das, was Menschen zu Menschen macht. Was ist der – sehr große – Unterschied zwischen moralischer Erziehung und PR oder Propaganda? Eben das wenigstens prinzipielle Vertrauen auf die Vernünftigkeit aller Menschen. In der moralischen Erziehung werden auch schrittweise Gewohnheiten erzeugt, die zu unbewussten Handlungen führen – man denkt nicht mehr über die Begründung nach, wenn man Menschen hilft, gerecht zu sein usw. Doch diese unbewusst gewordenen moralischen Verhaltensweisen sind jederzeit begründbar und sollten in einer ethischen Schulerziehung auch für jedermann begründet werden. Die PR erzeugt durch die Verknüpfung von Gefühlen und Bildern unbewusste Reaktionsweisen. Die Werbung nutzt diese bedingten Reflexe systematisch aus, neuerdings durch die Hilfe des Neuromarketings. Doch hier werden Verhaltensweisen implementiert, die einem bestimmten privaten Ziel dienen (meist der Gewinnmaximierung). In der Politik dienen PR-Techniken oft gleichfalls den Interessen einer regierenden Elite, in der Gegenwart vielfach der Finanzelite.
Nicht dass im Sinn von Kant moralisches Handeln auch als unbewusst wirkende Gewohnheit anerzogen wird, ist also zu kritisieren. Vielmehr, dass die Methode zur Erzeugung von Gewohnheitsmustern für fremde, nicht moralische Zwecke verwendet wird, ist das Unmoralische daran. Das Kriterium bleibt, dass eine Regel wirklich universalisierbar, also vernünftig zu begründen ist. Das, was durch PR die unbewussten Handlungen formt, ist nur dann »moralisch« zu nennen, wenn die entsprechenden Handlungsweisen langfristig, auf die ganze Menschheit und die umgebende Natur bezogen, nachhaltig umsetzbar sind. Fördert man die Gier der Anleger, die blinde Gehorsamsbereitschaft von Soldaten, ein unkritisches, für soziale und ökologische Nebenwirkungen blindes Konsumstreben durch Kaufanreize – dann sind diese Verhaltensweisen gerade nicht universalisierbar, sind also im strikten Sinn unmoralisch. Sie tragen wenigstens langfristig zur Störung oder gar zur Zerstörung der menschlichen Gesellschaft und der Ökosysteme bei. Kants kategorischer Imperativ ist insofern auch als moralische Übersetzung des Begriffs »Nachhaltigkeit« zu interpretieren.
Fasst man Kants Gedankengang zusammen, so ist zu sagen: Die Moral lässt sich nicht durch natürliche Ursachen begründen, damit naturwissenschaftlich auch nicht kritisieren oder widerlegen. Moral beruht letztlich auf freien Entscheidungen, auf der vernünftigen Einsicht. Wenigstens dies, dass man zu moralischen Regeln immer Nein! sagen kann, ist ein unmittelbarer Beleg für diese Tatsache. Gleichwohl ist es unvermeidlich, dass als richtig erkannte moralische Vorschriften auch als Gewohnheiten in der Erziehung verankert werden. Die Vernunft besitzt nicht immer, unter allen Umständen und für alle Menschen eine lenkende Kraft. Prinzipiell ist aber nach Kant davon auszugehen, dass alle Menschen in einer offenen Gesellschaft vernünftigen Argumenten zugänglich sind. Und in ethischen Streitfragen kann ohnehin nur das bessere Argument siegen. Inhaltlich kann man mit Kant fordern, dass eine Regel dann moralisch ist, wenn ihre allgemeine Befolgung das Leben aller Menschen – und, wie ich hinzufügen möchte, auch anderer Lebewesen auf unserem Planeten in einer intakten Umwelt – erhält oder fördert. Jede Regel, die dagegen das langfristige Zusammenleben stört oder zerstört, ist als unmoralisch abzulehnen.
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