Karl-Heinz Brodbeck

Säkulare Ethik


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Buddhismus. Eine Moralbegründung nenne ich hier theologisch, wenn sie als Voraussetzung einen Schöpfergott verwendet, der zugleich Schöpfer jeder Moral ist und aus dieser Voraussetzung anhand von Offenbarungen moralische Regeln ableitet. Rationale Argumente (z.B. Gottesbeweise) stützten dann die »Wahrheiten« aus der Offenbarung. In der jüdischen, christlichen und islamischen Theologie werden beide Formen der Begründung verwendet. Man argumentiert unter Voraussetzung der Existenz eines Schöpfergottes mit philosophisch-logischen Argumenten, und man verbindet dies mit Aussagen aus »heiligen Texten«, die man entsprechend interpretiert oder unmittelbar daraus moralische Aussagen entnimmt.

      In der Praxis gilt in theistischen Systemen meist eine schlicht normative Moral: Man kennt Gebote (Dekalog, Scharia) und wendet sie unmittelbar an. Logische Begründungen oder Rechtfertigungen für diese Moralregeln gibt es in den Offenbarungstexten so gut wie nie – jedenfalls nicht, wenn man diese Texte wörtlich auslegt. Eine metaphorische Auslegung findet sich allerdings häufig, bis hin zu den extremen Formen in der Kabbala, worin die Buchstaben der (hebräischen) Thora, die zugleich Zahlenwerte sind, als eine Art Modell des Kosmos interpretiert werden. Diese Art der metaphorischen Auslegung heiliger Texte wird aber auch immer wieder von anderen Religionsvertretern strikt abgelehnt: Man beharrt dann auf dem Wortlaut der Thora, der Bibel oder des Koran. Diese wörtliche Auslegung heißt »Fundamentalismus«. Luther lehnte z.B. die mittelalterliche Theologie ab, die versuchte, die Aussagen der Bibel in eine philosophische Sprache zu übersetzen (besonders Thomas von Aquin, aber auch Mystiker wie Meister Eckhart taten dies). Da sich eine wörtliche Interpretation eines »heiligen« Textes von je anderen, durchaus sehr verschiedenen Texten unterscheidet, gibt es zwischen Fundamentalisten differenter Religionen keine unmittelbare Verständigungsmöglichkeit. Dieser Fundamentalismus mündet deshalb bestenfalls in wechselseitiger Toleranz, häufig aber auch in direkten Kampf gegeneinander. Da der Sinn eines Textes dennoch immer einer Auslegung bedarf (»Hermeneutik«), geschieht es auch, dass sich fundamentalistische Gruppen, die sich auf denselben Text berufen, dennoch bekämpfen.

      Wie lässt sich nun die innere Logik einer theistischen Moralbegründung beschreiben? Jede Begründung muss von Voraussetzungen ausgehen. Diese Voraussetzungen nennt man in der Neuzeit »Werte«. Da moralische Regeln keine Naturgesetze sind, die man empirisch auf ihre Geltung hin überprüfen kann, sind moralische Regeln prinzipiell aus einer anderen Quelle abzuleiten. Theistische Systeme sehen diese andere Quelle in Gott. »Gott« ist definiert als allmächtiger, allwissender Schöpfer aller Dinge. Aus welchem Grund Gott jeweils das, was ist, geschaffen hat, erschließt sich der menschlichen Vernunft nicht. Deshalb hat dieser Gott – ihm wird darin Milde und Barmherzigkeit attestiert – aus Liebe zu seinen Geschöpfen seine verborgenen Ratschlüsse in einem heiligen Text offenbart. Die Menschen stehen in der Skala der Kreaturen, die dieser Gott hervorgebracht hat, an oberster Stelle: als Krone der Schöpfung. Die Menschen bleiben dabei zwar weit unter Gott, sind ihm aber doch ähnlich. Worin besteht diese Ähnlichkeit? Menschen sind weder allwissend noch allmächtig, weder handeln sie aus reiner Liebe, noch erkennen sie alle Dinge. Aber sie besitzen Verstand (Intellekt). In ihrem Intellekt sind sie Gott ähnlich. Deshalb präsentiert Gott den Menschen nicht wie den Tieren nur die Resultate seiner Schöpfung (Nahrung und Lebensraum), sondern er spricht auch zu ihnen, teilt ihnen seine Absichten mit. Dieser Prozess heißt »Offenbarung«. Zwar sei in allen Kreaturen auch das Werk des Kreators, des Schöpfergottes, erkennbar; man nennt solch eine Erkenntnis natürliche Theologie. Doch reicht diese Erkenntnis nicht hin, vor allem nicht zur Erkenntnis der moralischen Regeln für das menschliche Handeln. Diese offenbart Gott unmittelbar, indem er moralische Gesetze aufstellt, die Menschen zu befolgen haben. Sie verstehen zwar den Wortlaut dieser Gesetze, nicht aber ihren wirklichen tiefen Sinn – der bleibt dem inneren Ratschluss Gottes vorbehalten.

      Deshalb besteht der einzige Weg zur moralischen Erkenntnis im Glauben. Man muss einfach dem Wort Gottes Glauben schenken. Und man muss gehorsam sein – denn es ist ja der moralische Befehl des Allmächtigen. Gott schenkt den Menschen zwar prinzipiell die Freiheit. Das unterscheidet sie von den Tieren, die nur ihren Trieben folgen und nur auf Reize reagieren. Die Menschen wissen, was sie tun, und können folglich auch dem göttlichen Wort gehorchen. Aber sie sind dazu nicht durch eine Art Naturgesetz gezwungen. Das wäre sonst gar keine menschliche Freiheit. Weil sie also zu Gottes Befehl, zur göttlichen Moral auch Nein! sagen können, können sie sich gegen Gott stellen. Weil Gott – in diesem Argument unterscheiden sich Juden, Christen und Moslems in subtilen Details der Begründung – der allmächtige Schöpfer aller Dinge ist, deshalb gilt letztlich sein Wille auch immer (sonst wäre er gar nicht allmächtig). Deshalb kann Gott nicht zulassen, dass sich Menschen in ihrer Freiheit gegen seine moralischen Regeln stellen. Um seinen Willen wieder herzustellen, bestraft er ihre Handlungen und Gedanken, die sich gegen ihn stellen. Und da Gott unendlich in all seinen Attributen ist, bestraft er eine letzte Verweigerung seines Willens aus freier Entscheidung (»Todsünde«) auch unendlich. Eine unendliche Strafe ist die ewige Verdammnis.

      Damit die göttliche Strafe gerecht ist, bleibt natürlich die Voraussetzung bestehen, dass man die Offenbarung auch tatsächlich gehört haben muss. Wer ohne Kenntnis der göttlichen Offenbarung Handlungen begeht, die für einen Gläubigen »unmoralisch« sind, der wird deshalb anders beurteilt. Auch hierin unterscheiden sich die theistischen Systeme, und ich will auf Unterschiede nur sehr skizzenhaft eingehen. Christentum und Islam leiten aus der Voraussetzung, dass alle Menschen die göttliche Offenbarung auch hören müssen, als erste Pflicht die Missionierung der Nichtgläubigen ab. »Und Wir bestrafen nicht, bevor wir einen Gesandten geschickt haben«, heißt es im Koran 17,15. Jeder soll eine Chance haben, sich aus Freiheit zu Gott zu bekennen oder aber – das wird meist zunächst nicht laut dazugesagt – sich auch gegen Gott zu entscheiden, was dann fürchterlich bestraft wird.

      Das Bild des Menschen wird innerhalb der theistischen Systeme unterschiedlich entworfen. Einerseits betont die Theologie die menschliche Freiheit, den Intellekt als Ebenbildlichkeit zu Gott, andererseits wird gerade aus der Freiheit eine tiefe Neigung zur Sünde abgeleitet und insgesamt ein höchst negatives Bild von den menschlichen Möglichkeiten gezeichnet. Einigkeit herrscht nur, dass die Menschen ohne Bezug auf Gott verloren sind. Im Christentum wird die Chance, zu den Auserwählten, nicht zu den Verdammten zu gehören, ziemlich gering eingeschätzt: »Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.« (Matth 22,14) Auch die Zahl derer, von denen im Mittelalter angenommen wurde, dass sie ins Himmelreich gelangen würden, ist eher gering. Das beruht auf der Lehre von der Erbsünde. Menschen sind ihrer moralischen Natur nach verdorben durch die ererbte Ursünde von Adam und Eva. Während im Katholizismus durch die Beichte immerhin ein gewisser Freiraum zur Korrektur durch moralisches Handeln eingeräumt wird, ist der Protestantismus hier weitaus radikaler. Nach Luther können Werke überhaupt nichts zum Heil beitragen. Es ist nur der Glaube, der selig macht. Extremer noch formuliert Calvin, der vom Menschen als einem völlig verdorbenen Wesen ausgeht. Der Mensch sei bestimmt durch eine natura corrupta. Nur unaufhörliche Selbstbezichtigung der eigenen Sünden und harte Arbeit als Buße, frei von Vergnügen, biete eine Chance, den angeborenen Defekt etwas zu mildern, auch wenn er durch moralisches Handeln nicht zu beseitigen sei. Das war für den Kapitalismus eine durchaus passende Ideologie: Harte Arbeit für die Vielen, während der Zinsertrag der Reichen als Ausfluss göttlicher Gnade schon hier im weltlichen Leben galt. Warum das so gelten soll, wird nicht begründet. Nur der Glaube macht selig.

      Zwei weitere Haltungen in den theistischen Systemen sind noch mit Blick auf die Moralbegründung zu berücksichtigen: Der Gedanke der Missionierung steht neben einer Elitevorstellung, der Exklusivität der eigenen Religion. Das findet sich auch im Hinduismus (Brahmanismus), demzufolge nur Angehörige einer höheren Kaste überhaupt im vollen Wortsinn moralisch aus Erkenntnis handeln können. Im Judentum gibt es eine ähnliche Vorstellung. Auch das Judentum ist eine exklusive Religion. Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat. Der Glaube wird also vererbt. Zwar wurden auch Menschen durch Glaubensübertritt jüdisch (z.B. die Chasaren in Osteuropa). Doch insgesamt durchzieht das Judentum die Vorstellung einer exklusiven Religion, erkennbar an der Formel vom »auserwählten Volk Gottes«. Es werden im Judentum zwar andere Religionen respektiert, allerdings in engen Grenzen: Nicht von Gott verdammt wird – z.B. nach der Lehre des Noahidismus –, wer den sieben Regeln des Noah gehorcht. Dabei sind verboten: Gotteslästerung (also eigentlich: Ablehnung des Glaubens an einen Schöpfergott), die Verwendung von Götterbildern, besondere sexuelle Praktiken