es mir auch, das Judentum, den Islam, das Christentum und indische Systeme, die auf einem Schöpfergott aufbauen, gemeinsam unter dem Stichwort »theistische Moralbegründungen« zusammenfassend zu behandeln. Unterschiede können später herausgearbeitet werden, und so kann jede Tradition im Diskurs gleichwohl ihre Eigenart bewahren.
In principio erat Sermo (= lógos), »im Anfang ist das Gespräch« – so übersetzte Erasmus von Rotterdam den Beginn des Johannes-Evangeliums neu. Tatsächlich bedeutet lógos im Griechischen auch nicht »das Wort«, sondern die sprechende Gemeinschaft der Menschen. Heraklit sagte im Fragment B 2: »Obwohl aber der lógos allen gemeinsam ist, leben die Vielen, als hätte sie ein Denken für sich.« Gesprächsbereitschaft und wechselseitige Toleranz in der Begründung ethischer Systeme ergibt sich hier als angemessene Haltung, nicht das Festhalten an einem Wort oder einer Wahrheit. Nikolaus von Kues sagte 1453 hellsichtig:
»Wo keine Gemeinsamkeiten in der Form festgestellt werden können, sollen die Religionsgemeinschaften, wenn nur Glaube und friedlicher Konsens gewahrt bleiben, bei ihren frommen Bräuchen und Riten bleiben. Vielleicht wird sogar durch eine gewisse Vielfalt die fromme Hingabe gefördert, wenn jede Religionsgemeinschaft versucht, ihre Bräuche besonders sorgfältig zu pflegen.«{16}
Nikolaus von Kues sagt ganz dasselbe, was im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung der buddhistische König Asoka in seinem 12. Felsenedikt festlegte:
Das »Wachstum der inneren Werte ist auf vielfache Weise möglich. Voraussetzung aber dafür ist die Zurückhaltung im Reden, auf dass man nicht bei unpassender Gelegenheit die eigene religiöse Vereinigung herausstreiche und über andere religiöse Vereinigungen abfällig urteile. (…) So ist denn nur das Zusammengehen gut, auf dass ein jeder der Sittenlehre des anderen Gehör und Aufmerksamkeit schenke.«{17}
Ethik versus Moral
Das Wort Ethik kommt aus dem Griechischen und ist – das wird sich bei der Darstellung der Ethik des Aristoteles noch genauer zeigen – von dem Wort für »Gewohnheit« abgeleitet. Gewohnheiten unterscheiden sich von der Natur – wir würden heute sagen: Moralische Regeln unterscheiden sich von Naturgesetzen. Man kann, sagt Aristoteles, einen Stein nicht durch Hochwerfen daran gewöhnen, in der Luft zu schweben. Er gehorcht eben einem Naturgesetz (der Schwerkraft). Aber man kann menschliche (natürlich auch tierische) Verhaltensweisen durch Erziehung, durch Gewöhnung formen. Die griechische, die römische und später die mittelalterliche Tradition vertreten gemeinsam die Auffassung, dass Moralregeln nicht aus der Natur abgeleitet werden können. Sie sind keine Naturgesetze.
»Moral« ist die lateinische Übersetzung des griechischen Wortes »Ethik«, die Cicero eingeführt hat. In der deutschen Philosophie hat sich wiederum als Übersetzung von Ethik das Wort »Sittenlehre« eingebürgert. »Sitte« (Tradition) ist eine kulturelle Gewohnheit. Das Wort »Sitte« übernimmt die Bedeutung des ursprünglich griechischen Begriffs ēthos. Ethik, Moral und Sitte scheinen also in drei verschiedenen Sprachen dasselbe zu bezeichnen. Dennoch hat sich im – vor allem akademischen – Sprachgebrauch die Gewohnheit eingebürgert, dass man mit »Moral« nur die praktizierte Moral, die im Alltagsleben tatsächlich verfolgten Regeln des Handelns bezeichnet. Das Wort Ethik verwendet man dagegen für die Theorie, die Wissenschaft von der Moral. Der Ausdruck »Sittenlehre«, den noch Kant oder Fichte verwendeten, ist auch in Deutschland kaum noch gebräuchlich; er meint dasselbe wie Ethik als Wissenschaft.
Ethische Regeln versus Naturgesetze
Neben Regeln für Naturgegenstände (Naturgesetze) gibt es eine Vielfalt von anderen Formen des Verhaltens bei allen Lebewesen, natürlich auch beim Menschen. Sich die Hand zur Begrüßung zu geben, bei Hunden das Wedeln mit dem Schwanz oder die Fertigkeiten des Nestbaus bei Vögeln – all das sind Verhaltensmuster. Einige davon sind offenbar im Laufe der Evolution in das Erbmaterial (Genom) eingeschrieben worden – wie das Zwinkern mit den Augen oder der Kniereflex. Man kann diese Verhaltensweisen deshalb faktisch den Naturgesetzen gleichstellen. Sich die Hand beim Grüßen zu geben – und nicht ein Küsschen auf beide Wangen –, ist dagegen eine kulturelle Gewohnheit. Sie wird erlernt und unterscheidet sich zwischen den Völkern und Zeiten. All diese Verhaltensweisen sind nicht eigentlich moralisch. Zum Sprachgebrauch hier nur so viel: Wer sich nur verhält – wie ein fallender Stein oder wie ein bloßer Reflex –, der handelt nicht. Entscheidend ist bei moralischen Regeln immer, dass man sich aus Freiheit prinzipiell gegen eine Regel entscheiden kann. Es gibt hier allerdings wichtige Übergänge zwischen Handeln und Verhalten. Wer rein aus Gewohnheit handelt, der handelt weitgehend unbewusst. Auch wenn man einer Moralregel folgt, so tut man es oft nur aus Gewohnheit oder aus Gründen der Anpassung an das Verhalten anderer. Von außen betrachtet lässt sich also nicht immer sagen, ob eine Handlungsweise bewusst oder rein gewohnheitsmäßig und opportunistisch ausgeübt wurde.
Insofern zeigt sich bereits hier ein wichtiger Hinweis bei allen Diskussionen über Moral: Das Bewusstsein im Handeln spielt eine zentrale Rolle. Selbst wenn man einige Verhaltensweisen nur unbewusst durch Erziehung und Nachahmung übernommen hat, so erhalten sie doch dadurch einen moralischen Charakter, dass man sie sich bewusst machen und dann aus Freiheit verändern kann. Insofern kann jede Handlungsweise prinzipiell einen moralischen Charakter bekommen. Ob man jemand durch einen Handschlag oder durch zwei Küsschen auf die Wangen begrüßt, das kann durchaus auch moralisch gewertet werden: Wer einen Bischof auf die französische Küsschen-Art empfängt, verstößt in der Regel gegen die christliche Moral; ein Handschlag dagegen ist erlaubt. Dem japanischen Kaiser dagegen fröhlich die Hand zu reichen, widerspricht dem Protokoll, also der dort herrschenden Moral. Es gibt also keine klare Grenze zwischen Moralregeln und kulturellen Gewohnheiten. Dieselbe Verhaltensweise wird in unterschiedlichen Kontexten moralisch höchst unterschiedlich bewertet.
Moral versus Recht
Was unterscheidet die Moral- von einer Rechtsregel? Man verwendet für die Differenz gewöhnlich das Wort »sanktionsbewehrt«. Das heißt: Ein Verstoß gegen Rechtsregeln wird durch staatliche Gesetze näher definiert (darüber entscheiden Gerichte) und entsprechend bestraft (Sanktion). Dabei kann dieselbe Verhaltensweise sehr unterschiedlich gedeutet werden: Im Iran kein Kopftuch zu tragen ist verboten; in einigen islamischen Gemeinschaften in Deutschland ist das Tragen des Kopftuchs nur eine Moralregel – und in Frankreich ist gerade das Tragen eines Kopftuchs in öffentlichen Gebäuden gesetzlich verboten. Man kann also nicht aus einer bestimmten Handlung auf eine bestimmte Moral schließen. Ein Verstoß gegen moralische Regeln wird meist nicht direkt geahndet. Allerdings kann die Folge eine soziale Achtung oder ein sozialer Nachteil sein. Es ist nicht verboten, ungewaschen und mit schmutziger Kleidung ein Theater zu besuchen. Die Reaktion der Sitznachbarn kann aber sehr wohl beschämend wirken. Jede kulturelle Gewohnheit, die allgemein angenommen wird, bekommt einen moralischen Charakter, und eine damit verbundene Ächtung durch Mitmenschen bei einem Verstoß verleiht solch einer kulturellen Gewohnheit fast den Charakter einer Rechtsregel. Historisch sind die Übergänge hier fließend.
Egoismus versus Altruismus
Dieses Begriffspaar, heute weit gebräuchlich, stammt erst aus dem 19. Jahrhundert und wurde von Auguste Comte geprägt. Zwischen beiden Begriffen wird häufig eine Art Urgegensatz innerhalb der ethischen Diskussion vermutet. Sie unterscheiden in einer ersten Bedeutung das Streben nach dem je eigenen Wohl vom Streben nach dem Wohl der anderen. Doch gerade darin liegt ursprünglich gar kein moralischer Konflikt. Wer sich zur Erreichung eines Ziels anstrengt, sich Pflichten oder Tugenden auferlegt, auch gegen die Meinungen oder Gewohnheiten anderer, der ist in seinem Handeln durchaus selbstbezogen, aber noch kein moralischer Egoist. Der Dalai Lama betont das ausdrücklich, z.B. beim Umweltschutz. Zwar gilt das Ich im Buddhismus einerseits als Illusion, als Hindernis:
»Andererseits kann ein selbstsicheres Ich auch ein sehr positives Element sein. (…) Ohne ein starkes Selbstgefühl – das heißt, ohne sich seiner Fähigkeiten, seiner Möglichkeiten und seiner Überzeugungen sicher zu sein – kann niemand solch eine Aufgabe (gemeint ist hier der Umweltschutz, KHB) angehen. Da braucht man schon Selbstvertrauen, das liegt doch auf der Hand.«{18}
Ein starkes Selbstgefühl zu haben ist noch kein ethischer Egoismus. Und für das Wohl anderer etwas zu tun ist noch kein Altruismus: Man kann sehr