Karl-Heinz Brodbeck

Säkulare Ethik


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sich nicht von religiösen Fundamenten abhängig macht. Er formuliert Vorschläge zur Entwicklung eines »neuen Ethiksystems«, das von der gemeinsamen Voraussetzung ausgeht, die das menschliche Leben überhaupt kennzeichnet. In diesem Horizont, so der Dalai Lama, gilt es, »eine Basis für unsere inneren Werte zu schaffen, die keiner Religion widerspricht, aber auch, und das ist von entscheidender Bedeutung, von keiner Religion abhängig ist.«{3} Für die westliche Tradition bestand die Schwierigkeit in der Moralphilosophie in jüngerer Zeit stets darin, nicht in eines der Extreme zu verfallen, die in der Moderne nahe liegen. Die Kritik der christlichen oder anderer theistischer Traditionen hat mit Friedrich Nietzsche schließlich jegliche Moral als Illusion und Projektion eher niederer Triebe zu entlarven versucht. Die theistischen Traditionen (Brahmanismus, Judentum, Christentum, Islam) sind durch das Festhalten ihrer jeweiligen Offenbarung charakterisiert. Sie reduzieren die Moral auf religiöse Gebote, die jeweils ihrer heiligen Schrift (Veda, Thora, Bibel, Koran) absolute Geltung zusprechen. Dieser Fundamentalismus findet sich in allen Traditionen, und er hat auch säkulare Nachfolger gefunden – z.B. im Historischen Materialismus oder in der neuen atheistischen Bewegung.

      Es gibt aber in allen Morallehren neben direkten Vorschriften für das Handeln (= normative Ethik) auch Versuche, die jeweiligen Aussagen zu begründen. Diese Versuche bleiben oft rudimentär. Eine systematische Moralbegründung hat sich nur im säkularen Raum entwickelt, in der Philosophie Griechenlands, später in der Aufklärung, die sich von der religiösen Überlieferung emanzipierte. Als Motto für eine säkulare Ethik und ihre Begründung kann der Satz des Aristoteles aus seiner Nikomachischen Ethik gelten:

      »Sittliche Einsicht hat der, welcher die Fähigkeit zu richtiger Überlegung besitzt.«{4}

      Man kann mit etwas Wohlwollen auch in den theistischen Traditionen, wenn auch eher selten, die Aufforderung zur kritischen Prüfung der Glaubenswahrheiten finden. Avicenna übersetzt den letzten Satz von Sure 59.2 des Koran in diesem Sinn:

      »Überlegt, o ihr, die ihr Einsicht habt.«{5}

      Und Paulus sagt im Thessalonicherbrief, 5,21:

      »Prüfet aber alles, und das Gute behaltet.«

      Beide Aussagen lassen sich als Aufforderung zur rationalen Grundlegung der Ethik interpretieren. Eindeutig äußert sich hier der Buddha in seiner Rede an die Kālāmer, die ich im dritten Teil noch genauer darstellen werde – hier sei nur der letzte Satz zitiert:

      »Wenn ihr aber, Kālāmer, selber erkennt: ›Diese Dinge sind unheilsam, sind verwerflich, werden von Verständigen getadelt, und, wenn ausgeführt und unternommen, führen sie zu Unheil und Leiden‹, dann o Kālāmer, möget ihr sie aufgeben.« (AN 3.66){6}

      In der Kālāmer-Rede kann man nicht nur für den Buddhismus, sondern auch im allgemein philosophischen Kontext das Muster für eine rationale Moralbegründung erkennen, deren eindeutige Fragestellung erst im 18. Jahrhundert in der Aufklärungsphilosophie wieder erreicht wurde. Diese Rede des Buddha liefert mir auch die Hintergrundfolie der nachfolgenden Argumentation für eine säkulare Ethik. Sie belegt, dass es tatsächlich die buddhistische Tradition ist, die das große Potenzial zu solch einer Ethik bietet und damit ein Gesprächsangebot an andere religiöse Systeme darstellt, die der Vernunft eine zentrale Rolle einräumen. Die beiden kleinen Hinweise aus dem Koran und dem Thessalonicherbrief können hier als Zeichen für eine interreligiöse Verständigung in der Sprache der Philosophie dienen.

      Vom Altertum bis in die Gegenwart haben europäische Philosophen (von Diogenes Laertius bis Martin Heidegger) immer wieder behauptet, dass es nur so etwas wie eine europäische Philosophie gebe. Definiert man »Philosophie« – damit auch die Moralphilosophie – als in Griechenland begründetes Denksystem, dann ist diese Aussage trivial »wahr«. Meint man damit aber, dass das Nachdenken über Formen der Moralbegründung außerhalb Europas nicht stattgefunden habe, dann ist man einfach unwissend. Es gibt hier nicht nur viele Berührungspunkte, sondern auch viele Gemeinsamkeiten. Diese Tatsache ist mehrfach dargestellt worden.{7} Dennoch verbleiben auch charakteristische Unterschiede gerade zur buddhistischen Philosophie – Unterschiede, die besonders für die Begründung einer säkularen Ethik bedeutsam werden. Darin liegt der besondere Beitrag einer aus dem Geist der buddhistischen Philosophie formulierten Ethik.

      Ich möchte nachfolgend (ausführlich im dritten Teil) zum Vergleich an die buddhistische Philosophie und hier besonders an die Schule des Mādhyamaka (Nāgārjuna und seine Nachfolger) anknüpfen. Mit dem Begriff »buddhistische Philosophie« fasst man im Allgemeinen zahlreiche, teilweise höchst unterschiedliche Systeme zusammen.{8} Aus einer westlichen Perspektive finden sich in verschiedenen buddhistischen Traditionen: Materialismus, Idealismus, metaphysischer Pluralismus sowie ein strikter Determinismus neben der Lehre vom reinen Illusionscharakter alles Wirklichen. Bezüglich der normativen Ethik, d.h. der Regeln, die zur Erlangung des spirituellen Heilsziels (nirvāna) führen, herrscht vielfach Einigkeit. Doch man betrachtet auch dies unterschiedlich: Während im frühen Buddhismus ein völlig asketischer, von der Welt getrennter Lebenswandel (als Nonne und Mönch im Kloster oder in der »Waldeinsamkeit«, in der »Hauslosigkeit«) als oberstes Ideal und als Voraussetzung für die Erleuchtung gilt, erweitert man in späteren Systemen die Möglichkeiten einer spirituellen Praxis auch auf den Bereich außerhalb der Klöster. Im Tantrismus werden die verschiedensten menschlichen Leidenschaften als »geschickte Mittel« zum Erlangen der Erkenntnis verwendet. Tibet, China und Japan kennen jeweils in ihren Traditionen die Figur des »heiligen Narren«, der sich an keine Moralregel hält und dadurch gerade seine Schüler aus ihren körperlichen und geistigen Gewohnheiten aufzuwecken versucht. Im nun immerhin schon etwa seit einem Jahrhundert sich ausbreitenden westlichen Buddhismus ist das Ideal eines mönchischen Lebens weitgehend in den Hintergrund gerückt. Buddhistische Praktizierende führen gewöhnlich ein »normales« Alltagsleben, mitten unter allen anderen Menschen.

      Auf diese Aspekte der praktischen Ethik gehe ich nachfolgend nicht näher ein, sondern bleibe bei den Prinzipien zur Begründung moralischer Aussagen. Allerdings, das werde ich im letzten Abschnitt zeigen, weist auch eine säkular orientierte Ethik schließlich über sich hinaus und bietet Anknüpfungspunkte an die Spiritualität. Die buddhistische Lehre (Sanskrit Dharma; Pali Dhamma) stellt hier eine eigenständige Grundlage bereit, die als einzigartig gelten kann – besonders die Lehre vom Bewusstsein. Ich werde hierbei auch das kritische Gespräch mit den Neurowissenschaften und den Naturwissenschaften suchen.

      Es sei noch ergänzt, dass im nachfolgenden Text das Augenmerk auf die Begründung von moralischen Urteilen, also eine allgemeine, säkulare Ethik gerichtet ist. Verschiedene Fragen der Ethik für jeweils besondere Handlungsformen (Bereichsethiken) werde ich nur als Beispiele anführen. Sie gehören zur angewandten Ethik. Gerade hier gibt es auch im Buddhismus bereits zahlreiche Darstellungen.{9} Sie firmieren in jüngerer Zeit meist unter dem Stichwort »sozial engagierter Buddhismus«. Ich habe dazu ebenfalls Beiträge geschrieben und den Versuch einer buddhistischen Wirtschaftsethik vorgelegt. Die dort schon behandelten Fragen greife ich deshalb hier nicht mehr auf.{10} Das Thema dieses Buches ist die Begründung einer säkularen Ethik. Dies erfolgt im Vergleich der buddhistischen Ethik mit wichtigen, im Westen entwickelten Argumenten.

      Hierzu werde ich zunächst – nach einigen einleitenden Begriffsbestimmungen – verschiedene Erklärungsansätze aus der abendländischen Tradition diskutieren. Dass die hier getroffene Auswahl nicht vollständig sein kann, versteht sich von selbst.{11} Im dritten Teil versuche ich dann, aus der buddhistischen Philosophie eine säkulare Ethik zu gewinnen, in der zunächst alle weiter tragenden, also spirituellen Vorstellungen ausgeklammert werden. Die buddhistische Ethik an einen Diskurs mit den westlichen philosophischen und wissenschaftlichen Traditionen heranzuführen, gelingt nicht ohne Klärung wichtiger Aussagen im Buddhismus selbst. Vor allem die Karmalehre bedarf nach meiner Auffassung einer gründlichen Reform, will man auf den darin liegenden, durchaus für eine säkulare Ethik zu destillierenden Gehalt nicht völlig verzichten. Auch bin ich der Auffassung, dass die im Buddhismus gebräuchliche Trennung von »absoluter und relativer Wahrheit« selbst wiederum relativ, nicht absolut ist. Das will besagen: Auch die Lehren aus der »dritten Drehung des Rades« im Buddhismus (die Lehre von der Buddhanatur = tathāgatagarbha), gewöhnlich in einer Argumentation um alltäglich-moralische Fragen ausgeklammert,