Frage behandelt, die in einem säkularen Diskurs keine Rolle spielen darf.{12} Ich habe gerade in der Geldtheorie zu zeigen versucht, wie wichtig auch für rein wissenschaftliche Fragestellungen die Erkenntnisse sind, die Nāgārjuna gewonnen hat. Die Erfahrung der Leerheit und Scheinhaftigkeit aller Phänomene, besonders der Ich-Illusion, scheint mir für die Formulierung einer diskursfähigen Ethik unerlässlich. Die Kritik der »Ich-Illusion« im Buddhismus (An-Ātman) ist inzwischen keine rein buddhistische Überzeugung mehr, wie der gleichnamige Buchtitel des bekannten Hirnforschers Michael Gazzaniga belegt.{13} Ethik ist eigentlich – aus dem Geist der buddhistischen Philosophie, aber auch im Horizont vieler abendländischer Morallehren – Kritik des Egos. Erst auf dieser Grundlage können sich Fragen des Gemeinwohls, der Ökologie, aber auch einer Wirtschaft jenseits von Geldgier und Konkurrenzneid fundiert beantworten lassen.
Gerade als Kritik der Ich-Illusion eröffnet sich – das werde ich im Schlusskapitel zu zeigen versuchen – eine Gesprächsmöglichkeit auch über die Themen, die in der buddhistischen Tradition zu den »Unsagbarkeiten« zählen und bei deren Erwähnung westliche Wissenschaftler bislang schon von vorneherein kopfschüttelnd den Diskurs abbrechen. Hier kann gerade im Gegenzug durch einen Blick auf die blinden Flecken in den Natur- und Neurowissenschaften eine neue Gesprächsbasis eröffnet werden, die schließlich über ethische Fragen hinausweist in das ureigene Terrain aller spirituellen Traditionen: der Frage nach dem Sinn von Geburt und Tod und der Natur des Bewusstseins. Ich hoffe, hierzu einige neue Perspektiven gerade in einem sehr genauen Blick auf das zu gewinnen, was im wissenschaftlichen Weltbild übersehen wird. Es gibt durchaus so etwas wie Tatsachen des Bewusstseins, auch als Grundlage jeder Moral. Nur findet man sie nicht mit weißem Kittel in einem Labor beim Blick auf diverse Messgeräte. Warum das so ist, auch diese Frage wird zu klären sein – sowohl aus einer westlichen (vgl. Kapitel 2.7) als auch aus der buddhistischen Perspektive (vgl. den dritten Teil).
Es ist wichtig, noch zu ergänzen, dass der durchaus kritische Geist, der im Buddhismus zuhause ist und von Nāgārjuna sehr subtil kultiviert wurde, immer nur auf Denkformen abzielt, nie auf Personen, die solchen Denkformen anhängen. Das gilt natürlich auch und besonders für meine Kritik der tradierten Karmalehre (vgl. Abschnitt 3.3.4), die einige lieb gewonnene, leider allzu einfache Vorstellungen als unhaltbar erweisen wird. Ich schlage generell vor, das Karma zunächst als Argument in der moralischen Beurteilung von Handlungen, sozialen Institutionen oder Ereignissen einfach zu streichen. In moralischen Urteilen funktioniert der Begriff »Karma« entweder als Ausrede oder als Drohung – beides ist unter einer ethischen, keineswegs nur säkular-ethischen Perspektive unhaltbar. Im Gegensatz zu moralischen Urteilen, die an ein – im Zweifel dann doch unerkennbares – Karmagesetz anknüpfen, lässt sich das Mitgefühl aus der gegenseitigen Abhängigkeit aller Phänomene in der Begründung einer säkularen Ethik durchaus rational rekonstruieren. Meine Kritik am Karmabegriff möchte nur unsinnige, daran geknüpfte Vorstellungen beseitigen, gleichwohl aber auch einen durchaus vernünftig einsehbaren und wichtigen Kern herausarbeiten (vgl. Abschnitte 3.3.5 und 3.4.3). Man kann aus dem ursprünglichen Sinn von Karma als »Handlung«, in Verbindung mit dem Gedanken an Handlungsgewohnheiten (samskāra), durchaus an die Ethik im aristotelischen Sinn anknüpfen, denn »Ethik« bedeutet nach Aristoteles ursprünglich Gewohnheit. Insofern lässt sich für die säkulare Ethik der Karmabegriff so rekonstruieren, dass er für einen Diskurs mit abendländischen Traditionen anschlussfähig wird. Das gilt auch für die im Buddhismus eher unklare Stellung des Begriffs der »Freiheit«, der andererseits doch jeder Vorstellung von Befreiung zugrunde liegt. Auch hier kann durch eine Klärung, um nicht zu sagen: Reinigung, der überlieferten buddhistischen Vorstellungen eine Position gewonnen werden, die sich problemlos an die europäische Tradition anschließt.
All dies möchte ich in einem kritischen Diskurs mit der westlichen Wissenschaftstradition darstellen. Das methodische Grundprinzip der abendländischen Wissenschaften unterstellt, dass ihre Erkenntnisse moralfrei sind. Das wird sich als Illusion erweisen: Wissenschaft ist eine Form des menschlichen Bewusstseins. Die Wissenschaft vom Bewusstsein geht also jeder anderen Wissenschaft voraus. Und es ist gerade eine Eigenart des Buddhismus in all seinen Schulen, eine Wissenschaft des Bewusstseins zusammen mit der Ethik (śīla) zu kultivieren. Dies gilt ebenso für eine theoretische Wissenschaft in der buddhistischen Philosophie des Mittleren Weges (Mādhyamaka) wie in vielfältigen Meditationssystemen als praktische Philosophie. Von hier aus ist dann, das versuche ich im letzten Kapitel, 3.4, zu zeigen, auch eine Perspektive über eine säkulare Ethik hinaus möglich. Sie greift Themen auf, die hinter dem blinden Fleck der modernen Wissenschaft unsichtbar bleiben, darin zugleich aber eine Gesprächsgrundlage für andere spirituelle Systeme bieten können. Hier gewinnt eine säkulare Ethik den Sinn, auch eine interreligiöse Basis zu bieten.
Was ich im nachfolgenden Text versuche, ist vielleicht nicht nur für mich, sondern auch für die Leserinnen und Leser ein kleines Abenteuer des Denkens. Dies stets nach dem Motto, das der Buddha und knapp zweieinhalb Jahrtausende später Kant so formuliert haben: »Sapere aude! Ihr müsst selber erkennen.« Vielleicht kann so auch ein wenig vom Glück der philosophischen Erkenntnis durchscheinen, das Aristoteles in den Morgenstunden der abendländischen Philosophie folgendermaßen formuliert hat:
»Denn selbst wenn jemand alles besäße, aber in der denkenden Seele hoffnungslos krank wäre, so wäre ihm das Leben nichts Wählenswertes, weil auch seine sonstigen Vorzüge keinen Nutzen brächten. Darum meinen alle Menschen, soweit sie mit der Philosophie in Berührung kommen und von ihr zu kosten vermögen, dass die übrigen Dinge nichts wert seien; aus diesem Grund würde es keiner von uns aushalten, bis zum Ende des Lebens im Zustand der Trunkenheit oder ein Kind zu sein.«{14}
Die Ethik kann aus dieser Trunkenheit, die im Buddhismus Verblendung heißt, aufwecken, durch ein richtiges Tun, vor allem aber durch richtiges Erkennen. Denn moralisch zu handeln ist gut. Die Gründe für moralisches Handeln zu kennen ist aber besser. Denn es offenbart dem Verständigen auch die Schönheit und das Glück eines mitfühlenden Lebens. Ethik weist immer über die eigenen Ich-Schranken hinaus. Sie ist deshalb auch ein bleibender Stachel, eine Welt mit weniger Leiden zu verwirklichen – eine Welt, die trunken ist und, durch Gier und Aggression getrieben, heillos dahintreibt. Wenn sich aus der Ethik dann noch Perspektiven über das Handeln in der Welt hinaus eröffnen, dann erfüllt sich der Sinn eines gelingenden Lebens.
1 EINIGE BEGRIFFSERKLÄRUNGEN
Der Begriff »säkulare Ethik«
Das Wort »säkular« stammt vom Lateinischen saeculum und bezeichnet ursprünglich ein lang dauerndes Zeitalter. In der mittelalterlichen Theologie und Rechtsliteratur wurde der Begriff mehr und mehr im heutigen westlichen Wortsinn für alle Bereiche des menschlichen Lebens außerhalb der Kirche oder allgemeiner außerhalb der Religion verwendet. Besonders das bürgerliche und wirtschaftliche Leben, die bürgerliche Gesellschaft, wurde mit dem Wort »säkular« bezeichnet. Der Dalai Lama beruft sich in seinen Vorschlägen für eine säkulare Ethik auf die indische Verfassung. Hier hat »säkular« eine etwas andere Bedeutung: Das Wort bezeichnet dort das tolerante Nebeneinander verschiedener Religionen oder anderer Denksysteme. Eine säkulare Ethik ist demnach eine, die sich nicht auf eine Religion oder überhaupt auf religiöse Quellen stützt. Eine noch etwas anders begründete Idee stammt von Hans Küng in seinem »Projekt Weltethos«.{15} Er sucht in vielen Religionen nach Gemeinsamkeiten als Grundlage für eine globale Ethik. Während der abendländische Begriff einer säkularen Ethik vor der Schwierigkeit steht, aus einem nicht religiösen Bereich dennoch Moralregeln ableiten oder begründen zu wollen, steht der indische Begriff oder die Idee eines Weltethos vor dem Problem, tragfähige grundlegende Gemeinsamkeiten in sehr verschiedenen Religionen und Denksystemen finden zu müssen.
Ich schlage hier einen etwas anderen Weg zur Gewinnung einer säkularen Ethik vor, der seine Position, seinen Ort noch vor der Diskussion der oben genannten Probleme sucht. In der philosophischen Tradition und in den Religionen gibt es je eine Morallehre, die unterschiedlich begründet wird. Ich möchte also nicht auf so etwas wie gemeinsame Werte abzielen, sondern die Methoden der Begründung in der Ethik vergleichen. Wenn die Unterschiede in den Argumenten zur Begründung einer säkularen Ethik deutlich und bewusst geworden sind, kann man auch die Werte, die durch diese Begründungen fundiert werden