weiter, könne die Entfernung des Projektils von der Mondoberfläche auf etwa 2.833 Meilen angeschlagen werden, d.h. 4.500 Lieues. Das Telegramm schloss mit der zweifachen Spekulation: Entweder werde die Anziehungskraft des Mondes zuletzt überwiegen und die Reisenden würden schließlich an ihrem Ziel ankommen, oder das Projektil werde unverändert in seiner Umlaufbahn festgehalten und seinen Kreislauf um den Mond bis ans Ende der Jahrhunderte fortzusetzen haben.
Wie würde es den Reisenden aber ergehen? Zwar hatten sie für einige Zeit Lebensmittel, doch wenn man auch voraussetzt, dass ihr gewagtes Unternehmen gelingen würde, wie würden sie dann zurückkommen können? Wäre dies je möglich? Könnte man von ihnen Nachricht erhalten? Diese Fragen, die die gelehrtesten Federn in Bewegung setzten, beschäftigten das leidenschaftliche Publikum.
Ich muss hier eine Anmerkung machen, die allzu voreilige Beobachter beherzigen sollten. Wenn ein Gelehrter dem Publikum eine rein spekulative Entdeckung ankündigt, kann er nicht vorsichtig genug sein. Einen Kometen, einen Planeten oder einen Trabanten zu entdecken, ist keines Menschen Angelegenheit. Und wenn man sich in einem solchen Falle irrt, kassiert man den Spott der Menge, welcher man sich aussetzt. Deshalb ist es ratsamer, abzuwarten; und dies hätte auch der ungeduldige J. T. Maston tun sollen, bevor er das Telegramm, in welchem – ihm zufolge nach – das Schicksal der Unternehmung so deutlich erklärt wurde, in die Welt hinausschickte. Wie sich später herausstellte, enthielt jenes Telegramm tatsächlich einen doppelten Irrtum: 1. Die falsch berechnete Entfernung des Projektils von der Mondoberfläche, denn am 11. Dezember konnte man es unmöglich gesehen haben, und was J. T. Maston sah oder zu sehen geglaubt hatte, konnte nicht das Projektil der Kanone sein. 2. Die falsche theoretische Folgerung über das Schicksal des Geschosses, denn indem man dasselbe zu einem Trabanten des Mondes erklärt, setzt man sich mit den Gesetzen der logischen Mechanik in Widerspruch. Ausschließlich die Vermutung der Beobachter von Longs Peak, nämlich dass sich die Reisenden, sofern sie noch lebten, bemühten, unter Nutzung der Anziehungskraft des Mondes auf dessen Oberfläche zu gelangen, konnte als wahrscheinlich gelten. Diese verständigen wie auch mutigen Männer hatten nun aber den entsetzlichen Gegenstoß des Abschusses unbeschadet überstanden. Die Reise in ihrem absonderlichen Fahrzeug soll im Folgenden mit all ihren eigentümlichen und dramatischen Ereignissen wiedergegeben werden. Die Erzählung wird so manche Mystifikationen und Spekulationen zunichte machen; von der möglichen Lösung einer derartigen Herausforderung wird hingegen eine richtige Vorstellung vermittelt und es werden der wissenschaftliche Instinkt Barbicanes, die erfindungsreichen Ideen und Kenntnisse Nicholls sowie die possenhafte Kühnheit Michel Ardans veranschaulicht. Ferner wird sie auseinandersetzen, dass der ehrenwerte Freund, J. T. Maston, nur seine Zeit verlor, indem er den Mond auf seiner Bahn durch das Weltall mit Hilfe des Riesenteleskops beständig beobachtete.
ERSTES KAPITEL Abends zwischen zehn Uhr zwanzig und zehn Uhr vierzig
S
chlag zehn Uhr verabschiedeten sich Michel Ardan, Barbicane und Nicholl von ihren vielen Freunden auf der Erde. Die beiden Hunde, welche das Hundegeschlecht auf dem Mond gründen und verbreiten sollten, befanden sich bereits im Projektil. Die drei Reisenden näherten sich der Mündung des riesigen Kanonenlaufs und ein schwebender Kran brachte sie bis zur konischzulaufenden Spitze des Geschosses. Hier traten sie durch eine für diesen Zweck installierte Öffnung in das Aluminium-Gefährt ein. Nachdem die Taue des Krans aus der Röhre herausgezogen waren, wurde sofort das letzte Gerüst von der Mündung der Kanone entfernt.
Sobald sich Nicholl mit seinen Gefährten im Projektil befand, schloss er die Öffnung sorgfältig mit einer robusten Platte, welche von innen mit Schrauben befestigt wurde. Andere, fest eingepasste Platten verdeckten die Linsengläser der Ausgucklöcher. Die Reisenden befanden sich – in ihrem metallenen Gefängnis hermetisch eingeschlossen -in absoluter Dunkelheit.
»Und nun, meine lieben Kameraden«, sagte Michel Ardan, »tun wir so, als wären wir hier zu Hause. Ich führe die Verwaltung des Innern, ein Fach, worin ich sehr stark bin. Wir müssen es uns in unserer neuen Wohnung so bequem wie möglich machen. Vor allem müssen wir versuchen ein wenig Licht zu bekommen. Zum Teufel! Für Maulwürfe ist das Gas nicht erfunden worden!«
Bei diesen Worten ergriff der sorglose Geselle ein Zündhölzchen, rieb es an der Sohle seines Stiefels und entzündete damit die Flamme am Hahn des Behälters, welcher das komprimierte Gas enthielt, das zur Erleuchtung und Erwärmung des Zylinders für sechs Tage und sechs Nächte, also 144 Stunden, ausreichen konnte. Das so ausgeleuchtete Projektil brachte ein komfortabel eingerichtetes Zimmer mit gepolsterten Wänden, daran befestigten runden Diwans und einer wie in einem Dom gewölbten Decke zum Vorschein. Die mitgeführten Gegenstände: Waffen, Instrumente und sonstige Geräte, waren in der Polsterung gut befestigt, sodass sie den Rückstoß beim Abschuss bestimmt aushalten konnten. Alle nur erdenklichen Vorkehrungen waren getroffen worden, damit ein derartig tollkühnes Unternehmen auch glücklich durchzuführen sei. Michel Ardan untersuchte alles ausgiebig und erklärte seine vollste Zufriedenheit mit dieser Einrichtung.
»Es ist ein Gefängnis«, sagte er, »aber ein Reisegefängnis mit der Möglichkeit, durchs Fenster zu sehen; ich wäre dazu imstande, mich auf hundert Jahre hier einzumieten! Du lächelst, Barbicane? Hast du dafür einen Grund? Meinst du vielleicht, dies Gefängnis könnte unser Grab werden? Grab, meinetwegen, aber ich möchte es nicht mit dem Grab Mahomeds eintauschen, welches ohne Reisezweck im Weltraum fliegt.«
Während Michel Ardan sprach, trafen Barbicane und Nicholl ihre letzten Vorbereitungen. Als die drei Reisenden unwiderruflich in ihr Geschoss eingeschlossen wurden, zeigten die Zeiger von Nicholls Uhr auf zehn Uhr zwanzig abends. Die Uhr stimmte fast auf eine Zehntel Sekunde genau mit der des Ingenieurs Murchison überein. Barbicane hatte ihn danach gefragt.
»Meine Freunde«, sagte er, »es ist zehn Uhr zwanzig. In 27 Minuten wird Murchison mit einem elektrischen Funken den Draht berühren, welcher mit der Ladung der Kanone verbunden ist. Einige Augenblicke später werden wir dann unseren Erdball verlassen. Also haben wir noch 27 Minuten auf der Erde.«
»26 Minuten und 30 Sekunden«, verbesserte der pedantische Nicholl.
»Nun gut!«, rief Michel Ardan in bester Laune. »In 26 Minuten lässt sich noch vieles bewerkstelligen! Man kann da noch die wichtigsten politischen und sittlichen Fragen besprechen und selbst lösen! 26 sinnvoll gestaltete Minuten sind mehr wert als 26 untätig verlebte Jahre. Etliche Sekunden eines Pascals oder Newtons sind kostbarer, als das ganze Leben einer rohen Masse an Dummköpfen ...«
»Und was folgerst du daraus, du ewiger Schwätzer?«, fragte Präsident Barbicane.
»Ich folgere daraus, dass wir noch 26 Minuten haben«, erwiderte Ardan.
»Nur noch 24«, berichtigte Nicholl.
»Dann eben 24, wenn du es so genau nimmst, mein eifriger Kapitän«, erwiderte Ardan. »24 Minuten, in denen man gründlich ...«
»Michel«, sagte Barbicane, »auf unserer Fahrt werden wir reichlich Zeit haben, die schwierigsten Probleme gründlich zu erörtern. Befassen wir uns jetzt mit der Abfahrt.«
»Sind wir nicht bereit?«
»Doch. Allerdings sind noch einige Vorkehrungen zu treffen, um die Wucht des ersten Stoßes so gut wie möglich abzuschwächen!«
»Haben wir nicht die Wasserschichten in den zerbrechlichen Verschlagen unter uns, deren Spannkraft uns ausreichend schützen wird?«
»Das hoffe ich, Michel«, erwiderte Barbicane gutmütig, »aber ganz sicher bin ich dessen doch nicht!«
»Ah! Possen!«, rief Michel Ardan. »Er hofft! ... Ist sich der Sache nicht sicher! ... Und dieses klägliche Geständnis erst in dem Moment, da wir bereits eingepackt sind! Da möchte ich auf und davon!«
»Und wie?«, fragte Barbicane.
»In der Tat«, sagte Michel Ardan. »Das ist schwer. Wir sind im Zug und vor Ablauf von 24 Minuten wird der Schaffner pfeifen ...«
»20 Minuten!«, bemerkte