seine Stirn, rieb sich die Schläfen und rief mit fester Stimme:
»Nicholl! Barbicane!«
Er wartete ängstlich. Keine Antwort. Nicht ein Atemzug, welcher kundgab, dass seinen Kameraden das Herz noch schlug. Er rief abermals. Dieselbe Stille.
»Teufel! Sie verhalten sich, als seien sie von einem fünften Stock herab auf den Kopf gefallen! Bah!«, fuhr er mit der unverwüstlichen Zuversicht, die sich durch nichts stören ließ, fort. »Wenn sich ein Franzose auf die Knie zu richten vermag, so sollten auch zwei Amerikaner nicht davor zurückschrecken, wieder auf die Beine zu kommen. Aber beleuchten wir die Sache erst einmal.«
Ardan fühlte, wie er langsam wieder lebendig wurde. Sein Blut wurde ruhiger und floss wieder in gewohntem Kreislauf. Wiederholte Anstrengungen brachten ihn ins Gleichgewicht. Es gelang ihm aufzustehen. Er zog ein Streichholz aus der Tasche, rieb den Phosphor, bis er sich entzündete, näherte sich dem Gashahn und machte Licht. Der Behälter hatte nicht gelitten, kein Gas war entwichen. Darauf hätte schon der Geruch hingewiesen. Dann hätte Michel Ardan es nicht wagen dürfen, in dem mit Gas angefüllten Raum eine Flamme zu entzünden. Denn es hätte zu einer Explosion führen können, welche vielleicht das Werk vollendet hätte, was der Abschuss bereits ausgelöst hatte. Sobald die Gasflamme leuchtete, bog sich Ardan über die Körper seiner Gefährten, die wie leblose Massen übereinander lagen. Nicholl oben, Barbicane unten. Ardan hob den Kapitän auf, stützte ihn gegen einen Diwan und rieb ihn kräftig. Dieses mit Verstand ausgeführte Kneten brachte Nicholl wieder zum Bewusstsein; er schlug die Augen auf, besann sich sogleich und erfasste Ardans Hand. Dann fragte er umherblickend:
»Und Barbicane?«
»Der kommt auch noch an die Reihe«, erwiderte Michel Ardan. »Mit dir fing ich an, weil du oben lagst. Jetzt helfen wir Barbicane.«
Hierauf hoben Ardan und Nicholl den Präsidenten des Gun-Clubs auf und legten ihn auf den Diwan. Barbicane schien mehr als seine Genossen gelitten zu haben. Er hatte geblutet. Aber Nicholl beruhigte sich sofort, als er sich davon überzeugt hatte, dass dieser Blutverlust nur von einer leichten Verwundung an der Schulter herrührte. Bloß eine Schramme, die er sorgfältig verband. Dennoch dauerte es geraume Zeit, bis Barbicane wieder zu sich kam, worüber seine beiden Freunde, die ihn unablässig rieben, in Schrecken gerieten.
»Er atmet noch«, sagte Nicholl, das lauschende Ohr an der Brust des Verwundeten.
»Ja«, versetzte Ardan. »Er atmet, wie ein Mensch, der diese Tätigkeit täglich zu üben gewohnt war. Reiben, kneten wir, Nicholl, kräftig!«
Und die beiden improvisierten Ärzte machten es so gut, dass Barbicane wieder zum Herrn seiner Sinne wurde. Er schlug die Augen auf, richtete sich empor, ergriff die Hand seiner Freunde, und seine ersten Worte lauteten:
»Nicholl, sind wir in Bewegung?«
Nicholl und Barbicane sahen einander an. Um das Projektil hatten sie sich noch nicht gekümmert. Ihre erste Sorge galt den Reisenden, nicht dem Gefährt.
»Wirklich, sind wir in Bewegung?«, wiederholte Michel Ardan.
»Oder befinden wir uns ruhig auf dem Boden Floridas?«, fragte Nicholl.
»Oder auf dem Grund des Golfs von Mexiko?«, fügte Michel Ardan bei.
»Das wäre es noch!«, rief Präsident Barbicane.
Und diese doppelte Vermutung, welche seine Mitstreiter aufstellten, bewirkte unmittelbar, ihn wieder zu völligem Bewusstsein zu bringen.
Wie dem auch sein mochte, man konnte über die Lage, in der sich das Geschoss befand, noch keine bestimmten Aussagen treffen. Die scheinbare Unbeweglichkeit und die Unmöglichkeit, mit der Außenwelt in Verbindung zu treten, gestatteten es nicht, diese Frage zu beantworten. Vielleicht befand sich das Projektil auf seiner Fahrt durch den Raum? Vielleicht war es auch nach kurzem Höhenflug wieder zurück auf die Erde gefallen, oder auch in den mexikanischen Golf, was bei der geringen Größe Floridas leicht möglich sein konnte. Der Fall war ernst, das Problem brisant. Es musste baldmöglichst gelöst werden. Barbicane, dem bei seiner Aufregung die moralische Kraft half, seine physische Schwäche zu überwinden, stand auf und horchte. Außen tiefe Stille. Aber die dichte Polsterung musste auch jedes Geräusch, was von der Erde hätte kommen können, verschlucken. Doch etwas fiel Barbicane auf. Die Temperatur innerhalb des Projektils war außerordentlich hoch. Der Präsident zog ein Thermometer aus seiner Hülle und besah das Instrument; es zeigte 45 Grad an.
»Ja!«, rief er aus. »Ja! Wir sind in Bewegung! Die erdrückende Hitze, die durch die Wände des Projektils eindringt, entsteht durch die Reibung an den Schichten der Atmosphäre. Sie wird bald abnehmen, weil wir schon in den luftleeren Raum übergehen, und nachdem wir fast erstickt wären, werden wir starke Kälte zu empfinden haben.«
»Wie?«, fragte Michel Ardan. »Deiner Ansicht nach, befinden wir uns schon an der Grenze der Erdatmosphäre zum Weltraum?«
»Ohne Zweifel, Michel. Pass auf. Es ist jetzt zehn Uhr fünfundfünfzig. Wir sind seit etwa acht Minuten unterwegs. Wäre unsere Anfangsgeschwindigkeit nicht durch die Reibung vermindert worden, so wären wir schon binnen sechs Sekunden über die sechzehn Lieues, in der sich die Atmosphäre um den Erdball herum schließt, hinausgekommen.«
»Ganz richtig«, erwiderte Nicholl. »Aber wie hoch schätzen Sie die Verminderung der Geschwindigkeit durch die Reibung?«
»Auf etwa ein Drittel«, erwiderte Barbicane. »Das ist beträchtlich, aber meiner Rechnung nach beträgt sie soviel. Hätten wir nun am Anfang eine Geschwindigkeit von 12.000 Metern gehabt, so wird dieselbe beim Verlassen der Atmosphäre auf 7.332 Meter herabgemindert sein. Wie dem auch sei, wir sind bereits durch diesen Raum hindurch und ...«
»Und damit hätte Freund Nicholl seine beiden Wetten verloren; 4.000 Dollar, weil die Kanone nicht explodiert ist; 5.000, weil das Projektil über sechs Meilen hinausgekommen ist. Also, Nicholl, begleiche deine Schulden.«
»Stellen wir zunächst einmal die Richtigkeit von Barbicanes Aussagen fest, dann soll die Bezahlung auch erfolgen. Leicht möglich, dass Barbicanes Folgerungen richtig sind und dass ich meine 9.000 Dollar verloren habe. Aber es kommt mir noch eine andere Vermutung, ein Fall, womit die Wette so nicht verloren wäre.«
»Welche Vermutung?«, fragte Barbicane lebhaft.
»Es wäre denkbar, dass wir, weil der Funke aus irgendeinem Grunde nicht zum Pulver gelangt ist, gar nicht abgeschossen wurden.«
»Aber Kapitän!«, rief Michel Ardan. »Das ist eine rein spekulative Annahme! Sie kann nicht ernst gemeint sein! Sind wir nicht alle von dem Rückstoß fast zu Tode gerüttelt worden? Habe ich dich nicht wieder ins Leben zurückgeholt? Blutet nicht jetzt noch die Schulter des Präsidenten von dem Rückstoß?«
»Das stimmt, Michel«, bestätigte Nicholl. »Aber ›eine‹ Frage nur.«
»Die wäre?«
»Hast du etwas von dem Knall gehört, der doch bestimmt ganz entsetzlich laut gewesen sein muss?«
»Nein«, gab Ardan sehr betroffen zu. »Ich habe ihn tatsächlich nicht gehört.«
»Und Sie, Barbicane?«
»Ich auch nicht.«
»Nun, denn«, sagte Nicholl.
»In der Tat!«, murmelte der Präsident. »Warum haben wir keinen Knall gehört?«
Die drei Freunde sahen einander etwas verlegen an. Dieser Umstand war ihnen unerklärlich. Doch wenn das Projektil abgeschossen worden war, musste es konsequenterweise auch einen Knall gegeben haben.
»Überzeugen wir uns zuerst davon, wo wir uns befinden«, sagte Barbicane, »und ziehen wir die Deckel von den Luken.«
Diese höchst einfache Arbeit wurde sofort