Jules Verne

Das Karpatenschloss


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wenn er sich weithin vernehmbar machen wollte – und blickte aufmerksam in jener Richtung hinaus. Am hellen Hintergrunde des Horizontes erhoben sich in der Entfernung einer Meile und deshalb stark verkleinert die Umrisse einer Burg. Dieser altertümliche Schlossbau nahm auf einem einzeln stehenden Seitengipfel des Berges Vulkan den mittleren Teil eines Hochplateaus ein, das den Namen des Plateaus von Orgall führte. Bei dem schimmernden Lichte hoben sich die Umrisse des Ganzen deutlich und mit derselben Schärfe wie stereoskopische Bilder vom Himmel ab. Nichtsdestoweniger musste das Auge des Hirten mit seltener Sehschärfe ausgestattet sein, um irgend eine Einzelheit der entfernten Gegenstände unterscheiden zu können.

      Plötzlich rief er, den Kopf in die Höhe werfend:

      »Altes Schloss! ... Altes Schloss! ... Immer stütze Dich nur auf Deine Grundfeste! ... Noch drei Jahre, und es ist zu Ende mit Dir, denn Deine Buche hat nur noch drei Äste!«

      Die betreffende, nahe am Rande einer der Bastionen der Burg wurzelnde Buche erschien am Himmelsgrunde wie ein feiner Papierausschnitt, und in dieser Entfernung möchte sie schwerlich für jemand Anders als den Schäfer Frik sichtbar gewesen sein. Die Deutung jener geheimnisvollen Worte, die mit einer das Bergschloss betreffenden Sage in Beziehung stand, wird an passender Stelle nachfolgen

      »Ja«! wiederholte der Mann, »nur drei Äste!« ... Gestern waren es noch vier; der vierte ist aber im Laufe der letzten Nacht abgefallen ... jetzt steht nur noch ein Stumpf des stolzen Baumes da ... Ich zähle nur noch drei über dem starken Stamme ... nur noch drei, alte Burg ... nur noch drei lebende Äste!«

      Stellt man sich einen Hirten von seiner idealen Seite vor, so erscheint er einem gewöhnlich als Denker oder Träumer; er unterhält sich mit den Planeten; er spricht mit den Sternen und versteht sich darauf, die Schrift des Himmels zu lesen. In Wirklichkeit ist er im Allgemeinen ein unwissender, vernagelter Bursche. Trotzdem dichtet ihm die Leichtgläubigkeit so oft übernatürliche Fähigkeiten an; er versteht sich auf Hexerei je nach Laune; er wendet Verzauberungen durch Besprechen ab oder verzaubert selbst Mensch und Tier – was in diesem Falle ja fast auf Eines hinauskommt; er handelt mit sympathetischen Pülverchen; man kauft von ihm Liebestränke und Zaubersprüche. Ja, es geht so weit, dass er die keimende Frucht der Ackerfurche tötet, indem er verhexte Kieselsteine hineinwirft, oder dass er die Schafe unfruchtbar macht, indem er sie mit dem linken Auge ansieht. Ein derartiger Aberglaube findet sich in allen Ländern und fand sich zu allen Zeiten. Selbst in mehr zivilisierten Ländern gehen gar viele Leute nicht an einem Schäfer vorüber, ohne diesem ein paar freundliche Worte zuzurufen, ohne ihm einen hergebrachten Gruß zu bieten, indem er speziell »Hirt« genannt wird, worauf der Mann besonderen Wert legt. Ein Abnehmen des Hutes schützt bereits gegen manches Übel, und in Transsilvanien ist man deshalb damit nicht sparsam.

      Frik wurde nun als ein solcher Hexenmeister betrachtet, der Geistererscheinungen hervorzuzaubern vermochte. Nach Aussage der Einen gehorchten ihm die Vampire und die Stryges; nach der Anderer konnte man ihn bei abnehmendem Monde in halbfinstren Nächten, wie in anderen Gegenden das Gespenst des Großen Schalttages, auf dem Schutzdache von Mühlrädern reiten sehen, von wo aus er mit den Wölfen schwatzte oder träumerisch zu den Sternen hinausstarrte.

      Frik ließ die Leute reden, denn er stand sich ganz gut dabei. Er verkaufte Zaubermittel ebenso wie Schutzmittel gegen solche. Doch war er, wohl zu bemerken, nicht weniger gläubig als seine Kundschaft, und wenn er vielleicht auch an seinen eigenen Zauberkräften zweifelte, so galt ihm doch der Inhalt der landläufigen Sagen als unbestreitbare Wahrheit.

      Hiernach kann es nicht Wunder nehmen, dass er sich jene, das baldige Verschwinden der Burg betreffende Vorhersage zurechtlegte – da die Schicksalsbuche jetzt bis auf drei Äste zusammengebrochen war – und dass er sich beeilte, diese Neuigkeit in Werst bekannt zu geben.

      Nachdem er also seine Herde zusammengerufen, indem er mit vollen Backen eine aus weißem Holz geschnitzte Schäferpfeife anblies, schlug Frik den Heimweg nach dem Dorfe ein. Die Tiere in Ordnung haltend, folgten ihm seine Hunde – zwei Terrier-Bastarde, bissige, wilde Köter, die mehr geschaffen schienen, Lämmer zu zerfleischen als solche zu beschützen. Die Herde bestand aus etwa hundert Widdern und Schafen; darunter etwa einem Dutzend Lämmern, sonst aber aus drei- bis vierjährigen Tieren mit vier und mit sechs Zähnen.

      Diese Herde gehörte dem Ortsrichter von Werst, dem Biró Koltz, der der Gemeinde einen tüchtigen Weidepacht bezahlte und seinen Schäfer Frik hoch schätzte, weil er ihn als ebenso brauchbar bei der Schur, wie erfahren in der Behandlung der Schafkrankheiten, der Drehkrankheit, des Leberwurmes, der Trommelsucht, der Pocken, der Unfruchtbarkeit und anderer ähnlicher Störungen kannte.

      Die Tiere zogen in geschlossenem Haufen dahin, voran der Leithammel mit der Glocke und ein altes Mutterschaf mit Schellenhalsband, die beide inmitten des Geblökes »den Ton angaben«.

      Von dem Weideplatze aus schlug Frik einen breiten, von ausgedehnten Feldern umgebenen Fußweg ein. Hier wogten die prächtigen Halme eines Getreides, das ebenso hoch im Stroh, wie lang in den Ähren war; dort wucherten üppige Kulturen von »Kukuruz«, dem Mais des Landes. Der Weg führte nach dem Saume eines aus Fichten und Tannen bestehenden Waldes, der in seinem Schatten erquickende Kühle bot. Weiter unten schlängelte sich das spiegelnde Band der Sil hin, deren Wasser sich an den Kieseln des Grundes klärte, und auf der Stämme und Klötze aus den stromaufwärts liegenden Sägemühlen hinab schwammen.

      Hunde und Schafe machten am rechten Ufer des Flusses Halt und stillten gierig ihren Durst am steilen Rande, dessen Rosengebüsch sie durchbrochen hatten.

      Werst lag nur wenige Flintenschuss weit von hier entfernt, und zwar jenseits eines dichten, halbhohen Weidebusches mit natürlich entwickelten Bäumen, nicht solchen verkrüppelten Kröpfweiden, deren Zweigruten nur wenige Fuß über der Wurzel ausstrahlen. Dieses Weidengebüsch erstreckte sich bis zu den Abhängen des Vulkan, auf dem das gleichnamige Dorf den Vorberg eines nach Süden verlaufenden Zweiges des Piesagebirges einnimmt.

      Die Landschaft war jetzt menschenleer. Die Feldarbeiter kehren erst mit einbrechender Dunkelheit nach ihrem häuslichen Herde zurück, und Frik hätte jetzt wohl kaum Gelegenheit gefunden, den althergebrachten »Guten Tag!« Mit ihm begegnenden Leuten zu wechseln. Nachdem seine Tiere sich gesättigt, wollte er eben nach einem verschlungenen Talwege einbiegen, als ihm, etwa fünfzig Schritte stromabwärts der Sil, ein dort auftauchender Mann in die Augen fiel.

      »He! Guter Freund!« rief dieser dem Hirten zu.

      Es war einer jener fremden Händler, die alle Märkte des Comitats besuchen und die man dazwischen in Städten, Flecken und selbst in den geringsten Dörfern antrifft. Sich den Leuten verständlich zu machen, ist ihnen eine Kleinigkeit, sie sprechen eben alle Mundarten. Niemand hätte sagen können, ob der hier Erschienene ein Italiener, Sachse oder Walache sei; man erkannte aber leicht, dass er Jude, polnischer Jude war, an seiner langen hageren Gestalt, der gebogenen Nase, dem spitz auslaufenden Vollbarte, wie an der vorspringenden Stirn und den lebhaften Augen darunter.

      Dieser Hausierer handelte mit Brillen, kleinen optischen Instrumenten, Thermometern, Barometern, geringwertigen Wanduhren u. dgl.

      Was nicht in seinem, an starken Achselgurten hängenden Warenkasten untergebracht war, das hing ihm am Halse und am Leibgürtel – ein richtiger wandelnder Kramladen.

      Wahrscheinlich hegte auch dieser Jude die Achtung, vielleicht die stille Scheu, die nun einmal alle Schäfer anderen Leuten einflößen. So begrüßte er denn Frik zunächst mit einer Handbewegung. Dann begann er in rumänischer Sprache, diesem Gemenge aus Latein und Slavisch, mit fremdem Tonfalle:

      »Es geht Euch doch nach Wunsch, guter Freund?

      – Jawohl ... je nach der Witterung,« antwortete Frik.

      – »Dann geht‘s Euch heute also gut, denn es ist schönes Wetter.

      – Und morgen desto schlechter, denn da wird‘s regnen.

      – Regnen ...?« rief der Händler. »Regnet‘s in Eurem Lande auch ohne Wolken?

      – Nun, Wolken werden