Andrea Reichart

Nenn mich Norbert - Ein Norbert-Roman


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       Für Dirk, der mir bis heute nicht erklären kann, warum unser Hund bei ihm nicht zieht.

      Andrea Reichart

      Nenn mich Norbert

      Roman

      

MÖNNIG-VERLAG ISERLOHN

       Andrea Reichart studierte Germanistik und Anglistik und besaß in Essen eine Buchhandlung, ehe sie ins Sauerland zog, um das Konzept des Literaturhotels in Iserlohn umzusetzen und zu betreuen. ‚Nenn mich Norbert‘ ist ihr erster Roman.

       Mehr Infos unter http://www.nenn-mich-norbert.de.

      

© Mönnig-Verlag, Iserlohn, 3. Auflage 2013

      Alle Rechte an Bild und Text, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotografischen Wiedergabe und der Vervielfältigung bleiben dem Verlag vorbehalten.

      Umschlaggestaltung: Susanne Bohne

      Buchgestaltung, Textbearbeitung und Produktion: Mönnig-Verlag, Iserlohn

      Gedruckte Ausführung unter www.moennig.de Print: ISBN 978-3-933519-51-1 E-Book: ISBN 978-3-933519-61-0 EPUB E-Book: ISBN 978-3-933519-62-7 MOBI

      Kapitel 1

      In der Stadt hätte er sich nie verfahren. Nicht so wie jetzt. Dort gab es Umleitungsschilder. Nicht nur ein Schild, nein, mehrere, die sich fürsorglich um Ortsunkundige bemühten. Auf dem Land war das offensichtlich anders. Dort hätten sie auch ‚Hier links ab, den Rest kennst du ja‘-Schilder heißen können. Vielleicht war die gesamte ländliche Beschilderung nur eine clevere Methode, um Fremde zum Übernachten zu zwingen? Erst stundenlang über die pittoresken Dörfer jagen, vorbei an idyllischen Herbergen, bis sie völlig desorientiert endlich aufgaben und einkehrten? Er war ja eigentlich kein Anhänger von Verschwörungstheorien, aber als selbst sein Navi verzweifelte und nur noch in einem fort ‚Bitte wenden Sie jetzt‘ stotterte, wurde ihm mulmig. Sein Auto war für normale Straßen wendig genug. Das hier war keine normale Straße. Das war eindeutig ein schlechter Scherz, ländlicher Feldweghumor. Jede Schrebergartenanlage in der Stadt hatte breitere Wege als dieses Dorf. Seltsam, dass hier ein Tierheim sein sollte.

      Da war es wieder, das verlogene Holzschild. „Tier-Oase 50 m rechts“ stand da in schnörkeligen Buchstaben auf dem verwitterten Brett. Leider war ‚50 m rechts‘ aber nur eine Kreisverkehr-Baustelle, im weiten Umkreis gerodet, ohne ein einziges Haus in der Nähe.

      ‚Ok, das reicht‘, beschloss er entnervt, schaltete die verzweifelte Frau im Armaturenbrett aus und versuchte, die Sonne zu finden. Der Ort, in dem er wohnte, lag östlich von – ja von wo eigentlich? Egal. Östlich.

      „Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf. Im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen“, murmelte Norbert den alten Kinderreim. Er befand sich eindeutig im Norden. Keine Sonne weit und breit, nur tiefhängende, dunkle Regenwolken.

      ‚Gute Güte‘, dachte er entnervt, ‚was finden die Leute bloß am Landleben?‘ Wenn es nach ihm gegangen wäre, säße er jetzt in seinem Lieblingsrestaurant in der Düsseldorfer Altstadt, läse ein Manuskript und würde das leise Raunen der anderen Gäste genießen. Stattdessen kurvte er frustriert durchs Sauerland.

      Als er eine Stunde später ausgehungert und dehydriert in seine Garage fuhr, war es längst dunkel.

      Er griff nach seinem eleganten Aktenkoffer und dem altmodischen Herrenregenschirm. Mit einem leisen Pfiff verabschiedete sich sein Wagen auf Knopfdruck, das Garagentor glitt geräuschlos zu Boden, und die clevere Hauselektronik sorgte augenblicklich für warme Willkommensbeleuchtung im ganzen Haus.

      Mit einem Seufzer legte Norbert seine Sachen ab und ging direkt nach oben. Es gab wenig, was eine ausgiebige Dusche nicht wieder in Ordnung bringen konnte.

      Das Handtuch, das seinen eleganten Hausmantel vor den letzten Tropfen auf dem duschfeuchten, graumelierten Haar schützen sollte, warf er nachlässig über den Barhocker, als er eine halbe Stunde später die exklusive Kaffeemaschine bediente. Er zündete sich eine Zigarette an, nahm die FAZ und den Kaffee und ließ sich im Wohnzimmer auf das große, gemütliche Sofa sinken. Ein Blick auf die Rezensionen im Feuilleton ließ ihn lächeln. Er hatte natürlich wieder aufs richtige Pferd gesetzt. Er war sein Geld wert.

      Nachdem er die Zeitung überflogen und alles, was ihn interessierte, wenigstens angelesen hatte, bespielte er gedankenverloren die Fernbedienung und lehnte sich zurück. Nachrichten, Talkshow, hirnlose Massenverblödung, Werbung, Werbung, Werbung, Bellen.

      Er richtete sich auf.

      Der Hund, der dort gerade vorgestellt wurde, litt eindeutig an Lampenfieber und wollte dringend zurück in seine Garderobe. Der nächste war noch weniger entspannt, blickte aber wenigstens einmal in die Kamera, ehe er sich losriss und floh. Norbert notierte die Namen der Tierheime. Irgendwo dort draußen wartete angeblich sein neuer ‚bester Freund‘. Bettina war sich da offensichtlich ganz sicher. Er nicht.

      Als er später das Licht löschte und wieder nach oben ging, hatte er den Zettel mit seinen Notizen an die Pinnwand geheftet, zwischen all die anderen. Bettinas Augen schienen ihm von Bild zu Bild die Treppe hoch zu folgen, und sie konnte sich wie immer ein Schmunzeln nicht verkneifen.

      „Sag lieber nichts“, hob er den Finger und mahnte seine verstorbene Frau mit einem schiefen Lächeln zur Zurückhaltung. „Ich habe noch nicht aufgegeben. Noch nicht.“

      Kapitel 2

      Die Koffer waren gepackt, die kleine Wohnung sah so aus, als müsse man sich nicht schämen, wenn aus irgendeinem Grund jemand anderer als man selbst die Tür aufschließen würde, und mit einem leisen ‚Pause!‘ legte sie das Spielzeug in den Korb, den sie morgen Kai und Silke übergeben würde. Mit ihrem Hund.

      Sie atmete tief durch.

      Nobbi schaute sie aufmerksam an. Sicher spürte er, dass etwas im Busch war, aber heute Abend würde es keine Rolle spielen. Ihren letzten Abend wollte sie nicht mit Trübsal und Reisefieber verschwenden, sondern die Nähe ihres Hundes genießen.

      Sie zog sich ihre dicke Winterjacke und Nobbi das Hundegeschirr über und verließ die Wohnung.

      Im Wald war es nicht so dunkel wie befürchtet, durch den Regen aber auch nicht so hell wie erhofft. „Beschwer dich bei Tief ‚Dagmar‘“, riet sie ihrem Hund, als dieser sich fast vorwurfsvoll immer wieder umsah. Sie freute sich auf die Bewegung.

      Ihre Standardstrecke führte sie einmal um den Berg und ihre Gedanken einmal durch das letzte Jahr. Huberts Unfall, die Beerdigung, dann der Schock bei der Testamentseröffnung und die Zwangsversteigerung des Hauses, alles schien so weit weg und doch so nah, dass sie unwillkürlich schneller wurde, als könne sie den Erinnerungen davonlaufen.

      Nur mit Mühe und Not hatte sie, unter Aufbietung aller Energiereserven, den Abgabetermin für ihr Buch einhalten können, eine verbitterte Abrechnung mit all den verlogenen Geschichten über Liebe, Glück und Happy-End, wie sie im Leben, davon war sie inzwischen überzeugt, nicht vorkamen. Der Verlag war winzig, die Auflage klein, der wirtschaftliche Erfolg eher unbedeutend. Aber das interessierte Huberts Gläubiger nicht. Sie lauerten und würden sie im Auge behalten, vermutlich den Rest ihres Lebens.

      Dann das Angebot von Heike, eine ihrer Reisegruppen zu übernehmen. Vierzehn Tage Thailand, über Weihnachten und Neujahr, mit Rundreisen und viel Strand und Sonne.

      Claudia blieb stehen und ließ Nobbi in Ruhe schnüffeln. Sie hatten die Runde fast geschafft. Da Kai und Silke in der Nähe wohnten, würden sie mit ihm dieselben Runden drehen. Mit etwas Glück würde er ihre Abwesenheit gar nicht richtig zur Kenntnis nehmen. Dasselbe Futter, der alte Hundekorb, sein Spielzeug, Freunde, die er seit Welpentagen kannte und vor allem dasselbe Revier.