Andrea Reichart

Nenn mich Norbert - Ein Norbert-Roman


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wie, und die Ungewissheit war einer tiefen Trauer gewichen, die selbst ihn ergriffen hatte, obwohl er die beiden jungen Leute nicht einmal gekannt hatte.

      Es ging ihm wie damals, als das World Trade Center zusammengebrochen war. Eine Bekannte hatte ihre Tochter verloren, die in einer der oberen Etagen bei einer Bank gearbeitet hatte. Sobald man jemanden kannte, der von einer Katastrophe betroffen war, kroch sie einem irgendwie leichter und gründlicher unter die Haut.

      Norbert stellte den Ton am Fernseher lauter und verfolgte aufmerksam die Berichterstattung. Inzwischen waren fast acht Wochen vergangen, aber immer noch sah es dort aus wie Sodom und Gomorra.

      Norbert flog mehrmals im Jahr nach Thailand und traf sich dort mit anderen Agenten und ihren Autoren. Erfahrungsgemäß dauerte es Monate, wenn nicht Jahre, bis ein Krieg oder eine Naturkatastrophe soweit verarbeitet worden waren, dass die Autoren eines Landes begannen, sich literarisch damit auseinanderzusetzen. Er würde in Kürze wieder hinfliegen und trotzdem schon mal Augen und Ohren offenhalten. Ganz sicher gab es für das Thema ‚Tsunami‘ einen Markt. Gut gingen auch immer Buddhismus, Ausstieg oder ähnliches. Ruhige Idylle unter tropischem Himmel sprach vor allem in den Industrieländern müde und ausgebrannte Karriereopfer an. Nun war ausgerechnet das Paradies untergegangen. Er war gespannt, ob es ein literarisches Echo geben würde.

      Norbert machte sich in Gedanken eine Notiz, dass er unbedingt die Flugtauglichkeit seines Hundes überprüfen musste. Er würde das Tier auf keinen Fall zuhause lassen. Mike, sein erfolgreichster Autor und inzwischen auch guter Freund hatte ihm schon mehrfach angeboten, ihn im Privatjet mitzunehmen, vielleicht sollte er das Angebot nun in Betracht ziehen. Dann musste er den Hund nicht in einer Transportbox im Laderaum mitfliegen lassen. Er nahm sich vor, ihn mal anzurufen.

      Zeit spielte in Asien eine andere Rolle als in Deutschland. Beneidenswert. Mehr als einmal hatte er, wenn er dort war, überlegt, ob er nicht vielleicht einfach seinen Wohnort dorthin verlegen sollte. Sein Geld und das, was Bettina ihm aus ihrem kaum angetasteten elterlichen Erbe hinterlassen hatte, würden dort bis an sein Lebensende reichen und selbst die Erben erfreuen, wenn er welche hätte.

      Ein schlechtes Gewissen schlich sich in sein Bewusstsein. Er konnte nur hoffen, dass Bettina gerade nicht zuhörte. Sie hatte immer davon gesprochen, mit ihrem Geld Gutes zu tun, aber dazu war sie nicht mehr gekommen. Und all ihre Mittel hatten nicht verhindert, dass der Krebs sich als völlig unbestechlich entpuppt hatte. Er wusste genau, was sie angesichts der Bilder, die über den Bildschirm flackerten, sagen würde, säße sie hier neben ihm: „Klar, flieg runter, das ist dein Job. Aber nimm Geld mit, genug Geld, und sieh zu, wo du es gut und hilfreich anlegen kannst, verstanden?“ Ach, Bettina. Norbert seufzte. Nobbi schnarchte in seinem Körbchen.

      Im Fernsehen interviewten sie Angehörige von Toten, Verletzten und Vermissten. Die Frau, die gerade ins Mikro sprach, wollte einfach nicht aufhören, nach ihrem Sohn zu suchen, dessen Hand ihr bei der zweiten Welle aus der eigenen gerissen worden war. Sie war felsenfest davon überzeugt, sie würde ihn irgendwo finden, in einem der Krankenhäuser, in denen angeblich noch so viele nicht identifizierte Verletzte lagen. Auf die Frage, wo ihr Mann sei, antwortete sie mit einem erschöpften Achselzucken, sie habe keine Ahnung. Er sei wohl vor ein paar Tagen ohne sie zurück nach Deutschland geflogen. Er hätte aufgegeben. Er hätte gesagt, sie müsse sich entscheiden, für die Lebenden oder für die Toten. Immerhin hätten sie daheim noch zwei erwachsene Kinder. Die Frau schwieg und blickte hinaus aufs Meer, das friedlich und idyllisch jede Verantwortung für ihr Leid weit von sich wies.

      Norbert bemerkte, dass dem Reporter die Worte im Hals steckengeblieben waren, als die Überleitung, mit der er zurückgab ins Studio, etwas zu abrupt ausfiel. Er schaltete den Fernseher aus. Bettina hätte genau gewusst, was sie machen würde. Vermutlich wäre sie aufgestanden und hätte gepackt. Hätte etwas von einer Stiftung gemurmelt, für die Krankenhäuser. Oder für die Überlebenden. Für die Kinder oder die namenlosen Fremden. Bettina hätte nicht ausgeschaltet.

      Die Stille im Wohnzimmer nahm den Raum ein und ließ die eindringliche Stimme seiner toten Frau zu einem unüberhörbaren Flüstern werden, das er nicht ignorieren konnte und das sich in seinem Hirn festsetzte. So war das mit dem Hundethema auch gewesen. Jetzt hatte er ihr zuliebe schon einen Hund besorgt und fünf Handwerker glücklich gemacht. Wollte sie allen Ernstes, dass er sich auch noch humanitär in Asien herumtrieb? War die Frau denn nie zufrieden?

      Norbert beschloss, sich eine Dusche zu gönnen. Er duschte selten zweimal am Tag, aber dies war einfach kein normaler Tag. Er war völlig übermüdet nach der furchtbaren Nacht, er hatte heute mehr Einheimische kennengelernt als in den letzten Jahren zusammen, und er hatte sich schon lange nicht mehr so geärgert und so geekelt. Verglichen mit seinem artig emotionslosen Dasein der letzten vierundzwanzig Monate, erschienen ihm die Änderungen dieses Tages mehr, als er bereit war, ohne eine zweite Dusche zu ertragen. Es konnte auch gut sein, dass er sich danach hinlegen würde. Niemand zwang ihn, sich an die herkömmlichen Zeiten zu halten.

      „Komm mit rauf, Norbert“, versuchte er den schlafenden Hund zu motivieren, zwang ihn förmlich aufzustehen und schnappte sich den Hundekorb. Er gähnte.

      Heute würde er nichts Neues mehr anpacken. Morgen aber würde er einkaufen fahren. Dies war definitiv das letzte Mal, dass er dieses angenagte Geflecht mit der haarigen Decke darin an seinen guten Anzug drückte.

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