durchgerechnet. Wir müssten einen hohen Preis bezahlen und würden trotzdem weiter auf den Schulden sitzen, sollten wir überhaupt einen neuen Kredit erhalten. Und was passiert, wenn die Zinsen wieder anziehen? Nein, das ist leider keine Lösung.«
Die Vorstellung, den Schuldenberg und die Zinslast durch den Verkauf mit einem Schlag loszuwerden, war bestechend. Da musste er dem Cellerar zustimmen. Obwohl er innerlich entschieden hatte, zögerte er mit der Antwort. Schließlich sagte er:
»Ich möchte mir selbst ein Bild über Herrn Kaiser machen, bevor ich dem Verkauf zustimmen kann.«
»Gut, tu das, Bruder, aber du musst dich beeilen. Die Gäste reisen nach dem Mittagessen ab.«
Luc blickte dem Prior verwundert nach. Die Unterredung mit dem alten Herrn hatte keine drei Minuten gedauert und im Wesentlichen aus forschenden Blicken bestanden. Sollte es eine verkappte Standpauke sein wegen des Ausflugs nach Konstanz, obwohl er nichts dergleichen angedeutet hatte? Er wurde nicht schlau aus diesem Heiligen. Es war Zeit zu packen. Auf dem Flur fing ihn Bruder Anselm ab.
»Ich möchte mich bedanken«, sagte er.
»Wofür?«
»Für Ihren Rat gestern Abend. Der Prior hat sich jetzt doch entschlossen, das Stück Land an die NAPHTAG zu verkaufen – vorausgesetzt, seine Exzellenz der Bischof stimmt zu.«
»Rechnen Sie mit der Zustimmung des Bistums?«
»Oh ja, das ist nur eine Formalität. Schließlich geht es um die Zukunft des Klosters.«
»Sie werden also das Geschäft durchziehen?«
Bruder Anselm nickte lächelnd.
»Das freut mich, obwohl es mich eigentlich gar nichts angeht.«
»Ohne Ihren Rat …«
Den Rest sprach der Mönch nicht aus. Luc wollte sich verabschieden, doch Anselm zögerte.
»Darf ich auf Ihr Angebot zurückkommen, Herr Kaiser?«
Luc schmunzelte. »Die Anwältin – selbstverständlich, das Angebot steht.«
Anselm dankte beinahe unterwürfig. »Wir sind manchmal etwas weltfremd hinter den Klostermauern«, gab er zu. »Es wäre in der Tat äußerst hilfreich, wenn uns jemand beraten könnte, der sich auskennt. Zum Beispiel über den fairen Preis.«
Die Anwältin Heike Sommer kannte sich in Land- und Immobilienpreisen, Gesetzen und anderen Dingen aus, die sich der gute Bruder Anselm in seinen wildesten Träumen nicht vorstellen konnte.
»Darf ich fragen, wie viel die NAPHTAG zu zahlen bereit ist?«
Anselm antwortete ohne Zögern:
»Hundert Euro pro Quadratmeter. Es geht um 20‘000 Quadratmeter.«
»Das ist nicht sehr viel.«
Anselm erschrak. »Wie bitte?«
»Land in dieser Gegend für profitable industrielle Nutzung müsste eigentlich teurer sein.«
»Aber …«
Sein Einwand hatte den Bruder sichtlich erschüttert.
»Sie müssen pokern«, sagte er mit ernster Miene. »Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das zuwiderläuft, aber es geht nicht anders. Die NAPHTAG wird es auch tun. Verlangen Sie einen deutlich höheren Preis, sagen wir 120 Euro.«
Bruder Anselm wusste nicht, wohin mit den Augen. Sein Argument stürzte den Gottesmann in einen schier unlösbaren Gewissenskonflikt. Das Kloster brauchte dringend Geld, stand auf seinem Gesicht geschrieben. Feilschen – was für ihn als Händler tägliches Brot war, musste dem Mönch wie ein Elixier des Teufels erscheinen. Plötzlich streifte Luc ein verwegener Gedanke.
»Es könnte natürlich sein, dass die NAPHTAG auf den hundert Euro beharrt«, fuhr er fort. »In diesem Fall rate ich Ihnen, in NAPHTAG Aktien zu investieren.«
Damit hatte er Anselm endgültig überfordert. Bevor der Mönch die Sprache wieder fand, erläuterte er den Plan:
»Ich will damit nicht sagen, sie sollen Aktien kaufen. Es gibt einen viel eleganteren Weg. Vereinbaren Sie ein Paket Gratisoptionen. Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«
Er ging in seine Zelle, schaltete das Handy ein und hielt es aus dem Fenster, wo ein Empfang möglich war. Nach wenigen Klicks kehrte er zu Anselm zurück, hielt ihm den Bildschirm hin und erklärte die Zahlen:
»Diese Anzahl Kaufoptionen auf NAPHTAG Aktien entsprechen aus heutiger Sicht einem Wert von rund 200‘000 Euro. Die NAPHTAG würde Ihnen also die zwei Millionen Cash bezahlen für das Land plus 200‘000 Euro in Form von Optionsscheinen. Da der Kurs der Aktie unterbewertet ist, wird der Wert der Optionen binnen kurzer Zeit steigen. Sie können ohne Weiteres mit einer Verdoppelung in den nächsten zwei Wochen rechnen. Heißt im Klartext: Sie werden die Optionen für 400‘000 Euro verkaufen oder ausüben können. Insgesamt hätte Ihnen die NAPHTAG also 2.4 statt zwei Millionen bezahlt, was einem Preis von 120 Euro pro Quadratmeter entspricht. Können Sie mir folgen?«
»Rechnerisch schon, aber wo ist der Haken?«
»In diesem Fall gibt es eigentlich keinen. Ihr einziges Risiko ist, dass es bei den zwei Millionen Cash bleibt, die Ihnen der Konzern geboten hat. Die Optionen könnten wertlos verfallen, falls der Aktienpreis wider Erwarten sinkt, aber Sie haben ja auch nichts dafür bezahlt, also verlieren Sie nichts.«
Eine lange Pause entstand, bis Anselm misstrauisch fragte:
»Und Sie glauben, die NAPHTAG lässt sich auf diesen Handel ein?«
»Wenn meine Anwältin verhandelt, bestimmt«, antwortete er grinsend.
KONSTANZ WOLLMATINGEN
Eine neue Nachricht tropfte auf den Bildschirm des Laptops. Das Ge-räusch erinnerte verblüffend an den Wassertropfen aus einem undichten Hahn, der in die Blechwanne fällt und zerplatzt. Maria Herzog fand ihre Wahl des Geräuschs für die Chats mit Emma genial. Der tropfende Hahn war die perfekte akustische Metapher für den stundenlang locker vor sich hin tröpfelnden Austausch kurzer Textmeldungen in den Nächten, die sie nicht zusammen verbringen konnten. Sie steckte die pH-Messsonde auf den Glaszylinder, bevor sie Emmas Text las.
»Julian schläft endlich. Vermisse dich.«
»Solltest du auch – schlafen meine ich«, tippte sie als Antwort. »Morgen gibt es etwas zu feiern.«
Wieder fiel ein Tropfen. »Bist du sicher?«
Sie kontrollierte den pH-Wert. 4.05: Zu sauer, stellte sie fest und wollte korrigieren, doch ein Knacks schreckte sie auf. Sie wähnte sich allein im Haus. Die Kollegen hatten das Labor und die Büros längst verlassen. Außer dem Licht ihrer Tischlampe herrschte stockfinstere Nacht. Das fremdartige Geräusch war vom Flur ins Labor gedrungen. Sie schaltete die Deckenbeleuchtung an.
»Felix, bist du das?«
Wer sonst sollte um diese Zeit im Haus sein? Das Geräusch wiederholte sich, diesmal lauter, gefolgt vom vertrauten Knarren einer Tür. Es kam von draußen. Das Kippfenster zum Hof stand offen. Jemand machte sich an der Tür des Schuppens zu schaffen. Sie rannte ums Haus. Das Schloss des Lagers für Stroh und unbedenkliche Chemikalien wie Alkohol war aufgebrochen. Der Strahl einer Taschenlampe strich über die Regale. Das Licht erlosch sofort, als sie die Tür aufstieß.
»Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«, rief sie, weil ihr im ersten Schreck nichts anderes einfiel.
Ihr Herz wollte aus der Brust springen. Es blieb ruhig. Sie nahm allen Mut zusammen und rief noch einmal:
»Kommen Sie heraus!«
Vorsichtig trat sie in die Öffnung, um den Lichtschalter zu betätigen. Die Tür schlug ihr ins Gesicht und schleuderte sie hinaus. Sie fiel auf den rauen Teer, sah aus den Augenwinkeln, wie eine schwarze Gestalt davonrannte. Sie hörte eine Autotür zuschlagen, Motorengeräusch, dann kehrte unheimliche Stille ein. Ächzend erhob sie sich. Der linke Ellenbogen schmerzte.