konnte den Spruch nicht mehr hören. Jedes Mal, wenn Emma das sagte, kletterte ihr Sorgenbarometer einige Stufen höher.
Felix saß an seinem Computer, als sie ins Haus zurückkehrte.
»Wie sieht es aus?«, fragte sie.
Er studierte die Zahlenreihen und Grafiken, die das Spektrometer ausgespuckt hatte. Die Runzeln auf seiner Stirn bedeuteten nichts Gutes. Er zeigte auf eine Falte in der Proteinstruktur.
»Die war vorher nicht so ausgeprägt«, murmelte er. »Da stimmt etwas nicht. Ich dachte erst an ein Artefakt oder einen Messfehler, aber die zweite Probe zeigt die gleiche Anomalie.«
Es sah nicht allzu gut aus für ihren mühsam synthetisierten Katalysator.
»Aber die Endsequenzen mit den neuen Doppelbindungen sind in Ordnung?«, fragte sie.
Er nickte.
»Also, dann lohnt sich ein Versuch.«
Biochemie war eine Wissenschaft, die mindestens zur Hälfte auf der Methode ›Versuch und Irrtum‹ gründete. Man brauchte mitunter eine Engelsgeduld, bis alle Bedingungen für einen Erfolg versprechenden Versuch erfüllt waren.
»Der Reaktor ist vorbereitet«, sagte sie mit aufmunterndem Lächeln. »Nichts wie rein mit dem Enzym. Diesmal schaffen wir die fünfzig Prozent. So nah dran waren wir noch nie.«
Fünfzig Prozent Ausbeute an reiner Bernsteinsäure aus dem Bioreaktor: Damit wäre der Durchbruch geschafft, der Schritt zur industriellen Produktion realistisch.
»Das wäre die Sensation an der Pressekonferenz, was meinst du? Die erste echte Bioraffinerie in unserem bescheidenen Labor in Wollmatingen!«
Er saß gedankenverloren am Computer und starrte am Bildschirm vorbei ins Leere. Sie klopfte ihm auf die Schulter.
»Hallo, Dr. Buchmacher, jemand zu Hause?«
Er schreckte auf. »Wie – was ist los?«
»Das frage ich mich auch gerade. Hast du überhaupt zugehört?«
»Du – willst den Versuch trotzdem wagen?«
»Ja klar, und die Pressekonferenz wird ein Erfolg, habe ich noch gesagt. Die Anleger werden uns die Bude einrennen. Jeder will sich noch günstige Anteile sichern vor dem Gang an die Börse, du wirst sehen.«
Er blickte durch sie hindurch. Begeisterung sah anders aus.
»Bist du krank?«
Im Zeitlupentempo kehrte er zu ihr zurück und murmelte:
»Ja, vielleicht.« Unvermittelt grinste er, leicht errötend. »Eine Art Krankheit – du hast wahrscheinlich recht. Es fühlt sich ziemlich ungesund an.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Groschen fiel. Die Diagnose war so offensichtlich wie unerwartet für einen Nerd wie Felix.
»Du bist verliebt!«, rief sie lachend.
Er brauchte nicht zu antworten. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände.
»Unsern Felix hat‘s erwischt – ich fasse es nicht.«
Soweit sie sich erinnerte, war dies sein erstes Mal trotz der 27 Jahre.
»Wer ist die Glückliche, wie heißt sie, gibt‘s ein Foto?«
»Du nervst. Ich weiß, wie sie heißt.«
»Sag mal! Aber mir willst du den Namen nicht verraten?«
»Du kennst sie nicht.«
»Wer weiß. Du hast sie an der Uni kennengelernt, stimmt‘s? Klar, wo denn sonst.«
»Wir kennen uns eigentlich gar nicht«, entgegnete er mürrisch. »Sie passt einfach nicht zu den Typen, mit denen sie verkehrt, so ganz Grüne und Soziale im Schlabberlook mit total flachen Schuhen und großer Klappe.«
»Sie trägt Schlabberlook?«
»Nein, eben nicht. Sie ist – nett.«
Dabei schwankte sein Gesichtsausdruck zwischen keuscher Freude und Kummer.
»Warum hängt sie denn mit diesen Typen herum?«
»Sie hängt nicht herum – und überhaupt: Dazu müsste ich sie zuerst fragen.«
Er wich ihrem Blick aus. Es dauerte einen Wimpernschlag, bis sie begriff, was es bedeutete. Sie lachte laut auf.
»Ach so – du hast sie noch gar nicht angesprochen?«
»Du verstehst das nicht. Lass mich in Ruhe.«
Er begann, eifrig auf die Tastatur einzudreschen. Plötzlich hielt er inne und sagte:
»Ich muss morgen früh noch mal an die Uni. Vielleicht habe ich die Lösung für unser Problem.«
Du meinst die Lösung für dein Problem, dachte sie und machte sich kopfschüttelnd auf den Weg ins Labor.
KAPITEL 3
KONSTANZ
Chris steuerte ohne zu zögern auf die Vollversammlung bei der Aula zu. Von allen Seiten strömten junge Leute und vereinzelte ältere Semester zusammen.
»Immer schön bei Mutti bleiben«, ermahnte sie Hinz.
Der Kommissaranwärter wirkte etwas verloren inmitten der aufgeregt diskutierenden Jugend. Von Alter und Gestalt her fiel er wenigstens nicht aus dem Rahmen. Er ging ohne Weiteres als Kommilitone durch, der den Bachelor vielleicht nicht im ersten Anlauf geschafft hatte. Sie selbst gab sich mit Zopf und roter Schleife ein paar Jahre jünger, um nicht allzu sehr aufzufallen.
»Was ist da los?«, fragte Hinz.
»Das werden wir gleich herausfinden.«
Eine junge Frau drückte ihr ein Flugblatt in die Hand, wie um die Frage des Kollegen zu beantworten.
»Den Film müsst ihr euch unbedingt ansehen«, sagte sie, während sie fleißig weiter Flugblätter verteilte.
DIE FRACKING LÜGE DEMO!
stand als Überschrift auf dem Zettel, darunter ein paar Schlagzeilen, die sie nicht zum ersten Mal sah:
Gift im Grundwasser!
Fracking Chemikalien erzeugen Krebs!
Brennendes Trinkwasser!
Wohin mit dem giftigen Rückfluss?
Wollt ihr mehr Erdbeben?
Noch ein Desaster wie die Kernkraft?
Clean Fracking ist eine Lüge!
Fucking statt Fracking!
Demo Freitag 11:00 Uhr
»Ziemlich aufgeheiztes Klima«, flüsterte Hinz ihr zu.
»Gut für uns. Augen auf, Hinz. Uns interessieren die Wortführer und Organisatoren der Demo. Knipsen Sie unauffällig und sammeln Sie Namen. Am besten teilen wir uns auf. Sie folgen der Demo, ich ermittle in der Uni.«
Sie sah ihm an, dass er sich am liebsten augenblicklich in seine dunkle Ecke verkrochen hätte, aber er wagte nicht zu widersprechen. In der Aula lief der Film ›Gasland‹, eine Dokumentation des Amerikaners Josh Fox über die Folgen des Fracking Booms in vier US-Bundesstaaten. Drastische Szenen wie aus einem Katastrophenfilm wurden mit Buhrufen quittiert: explodierende Brunnen und Häuser, Trinkwasser, das so viel Erdgas enthielt, dass es brannte, als hätte jemand Wasser- und Gasleitung vertauscht, Haustiere mit plötzlichem Haarausfall, Klärschlamm als Grundwasser, vom zuständigen Konzern als unbedenklich eingestuft. Sie kannte den Film, hatte selbst erlebt, wie leicht auch ein kritischer Geist durch die drastischen Bilder und Einzelschicksale Augenmaß und Objektivität verlieren konnte. Glaubte man den Bildern auf der Leinwand, musste man unausweichlich zum Schluss kommen,