Hansjörg Anderegg

Strohöl


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aus Leibeskräften.

      Die tosende Schlammfontäne, die aus dem Leck in den Himmel schoss, übertönte alle Rufe. Sie verlor die Gestalt für kurze Zeit aus den Augen. Das Rohrlager versperrte den Weg. Fluchend rannte sie ums Hindernis herum. An der Ecke schoss die Schaufel eines Radladers wie das aufgerissene Maul einer Bulldogge auf sie zu. Ein Satz zur Seite in einen Sandhaufen rettete sie in letzter Sekunde.

      »Alles in Ordnung?«, rief der Fahrer, ohne anzuhalten.

      Er bremste nur leicht ab und beschleunigte sogleich wieder, als er sah, wie sie sich aufraffte. Wütend schüttelte sie den Sand aus den Kleidern, dann rannte sie weiter, den Puls auf hundertachtzig.

      Die Gestalt war verschwunden, das Auto auch. Mann oder Frau? Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Wagentyp und Kennzeichen blieben unbekannt. Eine schwarze oder dunkelblaue Limousine – mehr hatte sie nicht gesehen. Zu wenig für eine Fahndung, und die Verfolgung war zwecklos. Eine Stunde und unzählige Fragen später war sie kein bisschen schlauer. Niemand wollte den Unbekannten gesehen haben, aber es gab ihn oder sie, immerhin eine neue Erkenntnis.

      Der rote Minivan hielt unterhalb des Hügels an. Von hier aus lag einem das ganze Klostergut zu Füßen. Die Luft flimmerte über den abgeernteten Feldern. In der Ferne glitzerte das schmale, silberne Band des Überlingersees. Maria Herzog stieg aus und atmete die trockene Landluft ein, die wie immer um diese Jahreszeit nach frischem Stroh roch. Sie war froh, wenigstens von ihrem Lieblingsplatz aus keine Bohrtürme zu sehen und das Summen der Pumpen nicht zu hören. Die Landschaft und das alte Gemäuer des Klosters hatten sich nicht verändert, seit sie als kleines Mädchen zum ersten Mal auf diesem Platz gestanden hatte. Die Zeit war stehen geblieben. Das erfüllte sie jedes Mal mit einer inneren Ruhe, die sie sonst im Alltag nicht kannte.

      Die Marienglocke kündigte das mittägliche Angelusläuten mit drei bedächtigen Schlägen an. Sie war nicht religiös. Dafür war ihr Gehirn zu rational verdrahtet, aber die Jahre im katholischen Waisenhaus und Internat hatten ihr diese Kultur eingeimpft. Für sie war das Glockengeläute ein Stück Heimat wie der Bodensee oder der Zeppelin, der am stahlblauen Himmel surrend seine Runden drehte.

      Bauer Weber war auf dem Weg in die Scheune. Seine Maschinen ruhten über Mittag wie früher die Landarbeiter. Er sprang vom Traktor, als sie auf den Hof fuhr.

      »Da schau her, die Maria«, rief er freudig.

      Für ihn war sie immer noch das Mädchen, das fast jede freie Minute auf dem Hof verbrachte. Er war der Herr Weber geblieben.

      »Na, brauchen deine Pferde wieder Stroh?«, fragte er lachend.

      Er wusste, dass ihre Pferde mikroskopisch kleine Lebewesen waren, die das Stroh schneller fraßen als ausgewachsene Pferde das Gras. Vorstellen konnte er sich dennoch nichts unter ihrer Arbeit.

      »Sie lachen, Herr Weber, aber die Nachbarn haben uns tatsächlich schon gefragt, wann endlich die Pferde kämen.«

      »Kann ich gut verstehen.«

      Er half ihr, die zwei Strohballen ins Auto zu laden. Bald würde die ›Herzog Green Chemicals AG‹, ihre kleine Start-up Firma, mit einem Lkw vorfahren. Der Sprung vom Forschungslabor zur industriellen Produktion war endlich in Sichtweite gerückt. Sie war überzeugt, den endgültigen Durchbruch in den nächsten Tagen, höchstens Wochen, zu schaffen. Für sie und ihre Forscherkollegen, allen voran Felix Buchmacher, Mitbegründer und unverzichtbarer Partner, würde ein Lebenstraum in Erfüllung gehen. Ein Traum, an den auch die privaten Investoren glaubten, deren Risikokapital ihren Betrieb am Leben erhielt. Sie würden reich belohnt werden, daran zweifelte sie keinen Augenblick.

      Bauer Webers Frage unterbrach ihre Gedanken.

      »Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

      »Wie bitte – nein, Entschuldigung.«

      »Ihr Akademiker seid ein zerstreutes Volk«, sagte Weber kopfschüttelnd. »Ich habe gesagt, das Stroh koste diesmal nichts.«

      »Kommt nicht infrage.«

      »Willst du Streit?«, lachte er.

      »Was halten Sie davon, wenn ich diese zwei Ballen bezahle, dafür die nächste Ladung geschenkt erhalte?«

      Er musterte sie misstrauisch. »Da steckt sicher einer deiner schlauen Schachzüge dahinter.«

      »Abgemacht?«

      Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er schlug zögernd ein.

      »Vielen Dank, die nächste Ladung holen wir nämlich mit dem Lkw ab.«

      Sie nahm den Handel nicht ernst, er offenbar auch nicht. Mit den Schultern zuckend, sagte er:

      »Ich wusste es. Gegen euch Studierte ist kein Kraut gewachsen. Aber egal, vielleicht stehst du das nächste Mal sowieso vor einer leeren Scheune.«

      »Wie das?«

      »Ich weiß nicht, wie lang der Prior dem Druck der Fracking Mafia noch standhält. Das Kloster ist alles andere als auf Rosen gebettet, und nach der miserablen Ernte im letzten nassen Sommer herrscht Ebbe in der Kasse. Ich müsste dringend das Gebläse erneuern und das Dach ausbessern lassen, aber dafür fehlt das Geld.«

      »Sie meinen, Pater Raphael verkauft das Land doch noch an die NAPHTAG?«

      »Überraschen täte es mich nicht.«

      Die Nachricht schockierte sie. Das Stroh würde sie auch woanders bekommen, falls das Kloster den Getreideanbau aufgäbe. Ihr Problem bestand darin, dass sie den Verheißungen des ›Clean Fracking‹ keine Sekunde traute. Eine solche Industrieanlage praktisch vor der Haustür würde die Qualität der übrigen Güter, die Bauer Weber produzierte, beeinträchtigen. Bio Label ade, Lebensqualität ade. Vor allem aber schockierte sie, dass offenbar nichts und niemand die Profitgier des Petrochemie Giganten stoppen konnte. Weber hörte sich ihre Argumente geduldig an. Am Schluss bemerkte er nur:

      »Wem sagst du das.«

      Sie musste unbedingt den Prior sprechen. Die Mittagspause verbrachte sie am Telefon mit den Kollegen im Labor in Wollmatingen und ihrer Geliebten. Emma verhielt sich merkwürdig verschlossen seit einigen Tagen. Maria wusste nur, dass sie an einer heißen Story arbeitete, in der die NAPHTAG eine Hauptrolle spielte. Mehr war nicht aus Emma herauszuholen. Wie üblich hielt sie die Geschichte strikt unter Verschluss bis zur Veröffentlichung. »Sonst wird aus der Bombe eine harmlose Verpuffung«, war ihr Argument. Maria hatte kein Problem damit. Sie selbst verhielt sich nicht anders, was ihre Forschungsergebnisse anbelangte. Der entscheidende Unterschied bestand nur in Emmas Tendenz, sich bei ihren Recherchen in unmögliche Situationen zu manövrieren. Kurz bevor die Bombe platzte, steigerte sich die Sorge um Emma zum latenten Unwohlsein. Hörte sie einen halben Tag nichts von ihr, begannen sich die Nerven zu kräuseln, als stünden sie unter Hochspannung. Emma beendete das Gespräch mit dem üblichen Zweckoptimismus:

      »Mach dir keine Sorgen. Es ist bald vorbei.«

      Pater Raphael, der Prior des Klosters Mariafeld, empfing sie freudestrahlend wie Bauer Weber. Die Sorgenfalten auf seiner Stirn erschienen ihr zahlreicher und ausgeprägter als beim letzten Besuch vor zwei Monaten. Vielleicht bildete sie es sich ein nach dem Gespräch mit Weber, aber die Stimme des Paters bestärkte den Eindruck. Er klang müde, erschöpft, obwohl er sich alle Mühe gab, die gewohnte, unerschütterliche Kraft und Ruhe auszustrahlen, die ihr stets Halt und Zuversicht gegeben hatte. Sie sah in ihm nicht den Priester, den frommen Mönch. Pater Raphael war der gute Onkel, der sich ihrer nach dem Verlust der Eltern angenommen hatte. Ihm verdankte sie die Chance, an der Uni Konstanz das studieren zu können, was sie schon früh in den Bann gezogen hatte: Biologie, die Wissenschaft vom Leben. Er hatte sie letztlich überzeugt, den Schritt in die Selbstständigkeit mit dem Start-up-Unternehmen zu wagen, obwohl auch er sicher keine genaue Vorstellung davon hatte, was sein Schützling zwischen Petrischalen, Bioreaktoren und Chromatografen eigentlich trieb.

      »Du hast Stroh geholt, nehme ich an«, sagte er nach der Begrüßung.

      Sie nickte. »Die Mikroben brauchen Futter.«

      »Eines Tages musst du mir mit den