Hansjörg Anderegg

Strohöl


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beim BKA. Wenn jemand dieser Sache auf den Grund gehen kann, dann du.«

      Die Chemie der Erdkruste, die sie studiert hatte, war zwar meilenweit von der Petrochemie, der Wissenschaft des Erdöls, entfernt, aber der Fall begann sie zu interessieren. Nach kurzer Denkpause sagte sie lächelnd:

      »Es muss ja nicht immer Mord und Totschlag sein.«

      »Oh, da kann ich dich beruhigen. Der Fall könnte durchaus in Mord und Totschlag ausarten. Der Hauptverdächtige ist nämlich seit dem Anschlag wie vom Erdboden verschwunden.«

      »Das überzeugt mich natürlich sofort.«

      Richters Team hatte wie erwartet Kontakte und Formalitäten für ihren Einsatz am Bodensee bis in alle Einzelheiten vorbereitet. Hendrik brauchte nur noch auf den Knopf zu drücken, nachdem sie sich geeinigt hatten.

      Sie stand abends im stillen Haus in Dahlem vor der leeren Reisetasche und dachte an Jamie. Ein anonymes Hotelzimmer in Konstanz statt ihres einsamen Hauses – warum nicht? Vielleicht würde die Luftveränderung über die Trennung hinweghelfen. Sie packte wahllos Wäsche und Kleidung in die Tasche, legte die Ersatzmagazine für ihre Glock aus dem Waffenschrank dazu und verließ das Haus mit Tasche und Instrumentenkoffer. Lieber eine Nacht im Auto als allein in diesem Schlafzimmer, dachte sie und startete den Motor.

      

      

       KAPITEL 2

      KONSTANZ

      Der süße Duft frischgebackenen Brotes stieg Chris in die Nase. Sie lag schon eine Weile wach im Zimmer über der Bäckerei, obwohl sie erst gegen zwei Uhr morgens ins Bett gekrochen war. Die Altstadt erwachte früh. Sie hörte durchs halb offene Fenster Passanten miteinander schwatzen und lachen, als freuten sie sich, zu dieser gottlos frühen Stunde unterwegs zu sein. Bevor sie ins Bad ging, schaltete sie den Laptop ein. Die Verbindung mit Berlin klappte auf Anhieb. Wenigstens ein Lichtblick an diesem Morgen. Die Dusche spülte den Schlaf in den Ausguss mit der Folge, dass sie im Wachzustand jeden einzelnen Knochen zu spüren glaubte. Sie hatte die lange Fahrt an den Bodensee unterschätzt. Vielleicht war es auch nur das Alter. Die Vierzig stand schon auf der Anzeigetafel, ganz unten zwar, aber immerhin: vierzig, Halt auf Verlangen. Vielleicht rebellierte ihr Körper gegen die hellwachen Leute auf der Gasse, das geschäftige Treiben im Laden unter ihrem Fenster oder den Lärm der Möwen. An diesem Morgen ging ihr so ziemlich alles auf den Geist – keine ideale Voraussetzung für die erste Begegnung mit der Konstanzer Kripo. Die Kollegen auf dem Polizei-präsidium taten ihr jetzt schon leid.

      Sie klappte den Instrumentenkoffer auf, betrachtete ihr Altsaxofon unschlüssig und schloss den Koffer wieder. Ein paar Blues Riffs wirkten oft Wunder – nicht an diesem Morgen. Zu unmotiviert, ihr langes, strohblondes Haar zum Zopf zu flechten, band sie es rasch zum Pferdeschwanz zusammen. So sah es eher nach Tatendrang aus.

      Der Computer kündigte neue Mail an. Die Betreffzeile entlockte ihr das erste Schmunzeln an diesem traurigen Tag. Munition hatte Jens Haase seine Mail betitelt, die ausgedruckt einen ansehnlichen Ordner gefüllt hätte. Haase vereinigte drei Eigenschaften, die ihn als Kollegen unentbehrlich machten. Er verbrachte gefühlte vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche im Büro, erledigte seine Recherchen ebenso schnell wie gründlich, und er braute den besten Kaffee, den sie je gekostet hatte.

      Die Munition für den Einsatz in Konstanz umfasste nicht nur die Berichte des Kommissars Rappold, der die Ermittlungen vor Ort leitete. Haase hatte zudem eine intelligente Auswahl an Fachartikeln zur Fracking Technologie beigefügt und nicht vergessen, die häufigsten Argumente für und wider diese Fördermethode auf einem Blatt zusammenzufassen. Die Information stellte ein hilfreiches Repetitorium für sie dar. Die Zeit des Studiums lag doch schon einige Jahre zurück. Das Material über den NAPHTAG Konzern barg echten Sprengstoff. Sie fragte sich, wie Haase so schnell an die sensitive Information gelangt war, zweifelte aber keinen Augenblick am Wahrheitsgehalt. Nach diesen Unterlagen fanden die Testbohrungen bei Überlingen am falschen Ort statt. Das Fracking Projekt mit dem Namen Kranich – welch absurder Euphemismus, intakte Natur vorgaukelnd – war ursprünglich auf dem Gelände eines Klosterguts geplant gewesen. Da der Konzern sich nicht mit den Verantwortlichen des Klosters Mariafeld einigen konnte, hatte man die Versuchsanlage kurzerhand im hügeligen Gelände eines Nachbargrundstücks aufgebaut. Der Zugang zu den Schiefergas-Schichten gestaltete sich dadurch wesentlich komplizierter und erforderte längere, heikle Horizontalbohrungen. Diese Tatsache mochte für den Fall irrelevant sein, doch ihr Bauchgefühl sagte etwas anderes. Der Gedanke war jedenfalls notiert.

      Die Hintergrundinformationen über die Gruppe Gaia beschränkten sich auf Gerüchte. Haase hatte dennoch mehr über die Umweltaktivisten zusammengetragen als die Kollegen in Konstanz. Es gab Hinweise, dass sich die Gruppe aus Studenten und Ehemaligen der Uni zusammensetzte. Der Hauptverdächtige hieß Thorsten Kramer. Ihm gehörte das sichergestellte Auto. Sein Name tauchte indessen in keinem Polizeibericht auf. Eine gute Frage als Einstieg, dachte sie, klappte den Laptop zu, schob ihn in die Tasche und verließ das Hotel.

      Die Sekretärin im Präsidium führte sie an einen leeren Schreibtisch.

      »Sind Sie sicher, dass Kommissar Rappold noch hier arbeitet?«, fragte sie.

      Der junge Mann in der dunklen Ecke des Büros kugelte sich vor Lachen.

      »Das ist sein Arbeitsplatz«, antwortete die Sekretärin schnippisch.

      »Sieht nicht nach Arbeit aus. Wo steckt er?«

      Der junge Mann fand auch das enorm lustig. Er stellte sich als Kommissaranwärter Hinz »wie Kunz« vor und beantwortete ihre Frage:

      »Rappold ist beim Zahnarzt – Notfall.«

      »Mein Beileid. Und Sie sind sein Stellvertreter?«

      Der dritte Lacher erstarb abrupt, als sie ihm den Dienstausweis zeigte. Er mutierte binnen Sekunden vom Scherzkeks zum dienstbeflissenen Assistenten.

      »Ich rufe ihn auf dem Handy an«, sagte er, das Telefon am Ohr. Nach einer Weile gab er auf. »Anrufbeantworter.«

      Sie steuerte auf einen zweiten verlassenen Schreibtisch zu.

      »Arbeitet hier auch ein unsichtbarer Kollege?«

      Hinz drohte rückfällig zu werden.

      »Nein – den – der ist frei«, stammelte er. »Wir sind etwas unterdotiert, was das Personal betrifft, dafür gibt‘s jede Menge freie Schreibtische.«

      Der junge Mann besaß auch Humor. Das war ihr ein freundliches Lächeln wert.

      »Kommissar Rappold sollte eigentlich schon zurück sein«, sagte er. »Ich kann Ihnen inzwischen die Akte zum Fall Überlingen heraussuchen.«

      Er blickte sie erwartungsvoll an oder eher ihren Hintern in den engen Jeans, wie sie aus den Augenwinkeln feststellte.

      »Wenn Sie mir dann die Akte geben könnten, sobald sie sich sattgesehen haben …«

      Im nächsten Augenblick lag die Mappe auf ihrem Tisch. Zu verlegen für eine Antwort, eilte Hinz hinaus. Nach wenigen Minuten kehrte er mit einem älteren Herrn im Schlepptau zurück, der eindeutig zu viel Kohlenhydrate konsumierte. Seinen Schmerbauch zu bewegen, erforderte sichtbaren Kraftaufwand. Er ließ sich schwer atmend in den Sessel am leeren Schreibtisch fallen. Umständlich betastete er den Kiefer und brummte dabei Unverständliches. Verwünschungen, die sich gegen den Zahnarzt oder Zahnärzte im Allgemeinen richteten, nahm sie an. Er schien sie erst zu bemerken, als sie auf ihn zutrat.

      »Sie müssen Kommissar Rappold sein«, sagte sie und stellte sich vor.

      »So – muss ich?«

      Noch ein Scherzkeks.

      »Meinetwegen können Sie den Osterhasen spielen, aber wir müssen uns über den Fall Überlingen unterhalten. Und fragen Sie jetzt nicht: So – müssen wir?«

      Ihr Ärger prallte an ihm ab, als säße er in einer Blase ohne Verbindung zur Außenwelt.

      »Wir