Hansjörg Anderegg

Strohöl


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      Sie fiel nicht ins Schloss, sodass sie unabsichtlich Zeugin eines sehr erregten Telefongesprächs wurde. Sie konnte nicht ermitteln, wen er anrief, aber das Wort Industriespionage fiel mehrfach. Wie sie angenommen hatte, war sie der Konzernleitung gehörig auf die Zehen getreten.

      Fabian Schröder war nicht erbaut. Was sein Vertrauter ihm am Telefon aus Konstanz berichtete, eignete sich nicht, ihn zu beruhigen.

      »Ich dachte, die Polizei hätte diese Gruppe Gaia längst kassiert«, sagte er ärgerlich.

      »So einfach ist das nicht. Man weiß zwar, dass die Gruppe existiert, aber die Mitglieder sind nicht bekannt, behauptet jedenfalls meine Quelle.«

      »Ich frage mich, welche Schlafpillen unsere Behörden einwerfen. Die müssten ein verdammtes Vermögen wert sein auf dem freien Markt.«

      Der Mann am andern Ende der Leitung lachte schallend.

      »Schon möglich«, sagte er, »aber sieh es mal positiv. Solang die Bullen den Laden nicht hochgehen lassen, sind unsere Chancen intakt, die verschwundenen Papiere vorher sicherzustellen.«

      »Ich glaube nicht, dass mich das beruhigt.«

      »Sollte es aber. Im Übrigen gehe ich nicht davon aus, dass die Umweltfreaks die Papiere haben. Der Inhalt wäre sofort im Internet aufgetaucht. Ist er aber nicht. Nee, mein Lieber, ich glaube, der zweite Täter, oder besser: die Täterin, hat die Dokumente und will sie womöglich zu Geld machen.«

      Es klopfte an der Tür.

      »Was du glaubst, ist mir so was von egal«, sagte er hastig. »Finde das Material, und zwar gestern. Ich muss Schluss machen.«

      Wütend knallte er den Hörer auf die Gabel.

      »Herein!«

      Ingenieur Kolbe trat ein, Sorgenfalten auf der Stirn wie häufig in letzter Zeit. Gleichzeitig summte das Telefon. Er drückte auf die Besetzt-Taste, um den Anruf an die Sekretärin umzuleiten. Das ›Bilaterale‹, die Lagebesprechung mit seinem Versuchsleiter, hatte höchste Priorität.

      »Sie bringen keine guten Nachrichten, stimmt‘s? Setzen Sie sich.«

      »Wir brauchen jetzt sofort Nachschub, Chef. Ohne den Zusatz fördern wir höchstens Wasserdampf. Wenn wir nicht sofort etwas unter-nehmen, fällt der Druck zusammen, und wir können nochmals von vorne beginnen. Das Magazin sagt mir, Sie hätten die Lieferung gestoppt.«

      Kolbe war ein Mann der klaren Worte.

      Schröder nickte. »Und das mit gutem Grund.«

      »Aber – so kann ich nicht arbeiten. Das gefährdet das ganze Projekt.«

      »Immer mit der Ruhe. Ich habe die Lieferung gestoppt, weil ich nach dem Brand im Lager keine Chemikalien mehr vor Ort dulde. Sie haben sich doch selbst über die dauernde Schnüffelei der Polizei am Tatort beklagt. Wir können es uns nicht leisten, dass die sich am Ende noch für unsere Betriebsgeheimnisse interessiert.«

      Kolbe brauchte nicht lang über die Erklärung nachzudenken.

      »Es gibt nur zwei Möglichkeiten«, sagte er. »Entweder mischen wir vor Ort wie bisher oder hier am Produktionsstandort. Dann benötigen wir allerdings Spezialtransporter.«

      Schröder nickte lächelnd. Kolbe war der richtige Mann für den Job.

      »Ich habe es bereits in die Wege geleitet«, bestätigte er.

      »Das führt zu erheblichen Mehrkosten, Chef.«

      »Darum müssen Sie sich nicht kümmern. Überdies bezahlt die Versicherung für den Ersatz des Lagers. Wir werden die Mittel kreativ umleiten.«

      »Verstehe.«

      Kolbe erlaubte sich zum ersten Mal seit Langem eine Art Grinsen, bis ihm das nächste Problem einfiel. Er stieß einen halb unterdrückten Fluch aus und sagte:

      »Wir müssen den Bericht zurückhalten. Der liest sich, als wären der Wiederaufbau des Lagers und die neue Lieferung beschlossene Sache.«

      Die Bemerkung wirkte wie ein Faustschlag in die Magengrube. Schröder begriff sofort, was sein Ingenieur meinte. Von diesem Bericht ging automatisch eine Kopie an die Konzernleitung. Er hatte bisher stets peinlich darauf geachtet, keine technischen Einzelheiten darin zu erwähnen. Wenn nun plötzlich neue Details über die Fördermethode in seinem Bericht auftauchten, führte dies zu unangenehmen und vor allem überflüssigen Fragen. Gerade jetzt konnte er sich keinen Klecks im Heft leisten. Finn Matthes, der den Steuerungsausschuss leitete, würde ausrasten, falls ihn seine Vorstandskollegen damit bedrängten. Schröder starrte Kolbe an, als wartete er auf die Lösung des Problems.

      »Der Bericht sollte in Ihrer Mail sein«, sagte der Ingenieur zu allem Überfluss.

      Er hatte seinen Posteingang noch nicht geleert.

      »Gut, ich kümmere mich darum«, murmelte er. »War‘s das? Sind wir fertig?«

      Sobald Kolbe das Büro verlassen hatte, setzte er sich an den Computer. Die Betreffzeile der Mail mit dem angehängten Bericht sprang ihm sofort in die Augen. Wie befürchtet, war sie auch ans Sekretariat des Vorstands adressiert. Wie holt man eine verdammte E-Mail zurück? Er fluchte ausgiebig, bevor er die Sekretärin rief. Sie war noch jung genug, sich besser mit Computern auszukennen.

      »Warum wollen Sie die Mail zurückholen?«, fragte sie zu seiner Überraschung, nachdem er ihr das Problem geschildert hatte.

      »Der Bericht darf so nicht zum Vorstand.«

      »Das habe ich schon verstanden. Die Mail geht aber nur ans Sekretariat. Dort wird der Bericht ausgedruckt und in Papierform verteilt. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«

      Kaum hatte sie es gesagt, hetzte er aus dem Büro, in den Aufzug und stand fünf Minuten später schwer atmend im Sekretariat.

      »Suchen Sie so dringend eine neue Sekretärin, Schröder?«, fragte Finanzvorstand Matthes, der unbemerkt hinter ihm eingetreten war.

      Er quittierte den Scherz mit dem erwarteten Lacher, obwohl ihm zum Kotzen war. Die Kopien des Berichts lagen gut sichtbar im Korb für den Postausgang. Mit angehaltenem Atem verfolgte er das kurze Gespräch des Finanzvorstands mit seinem Vorzimmer, vergeblich nach einer Strategie suchend, wie er die Zeitbombe von Matthes fernhalten könnte. Der Finanzvorstand schickte sich an, den Raum ohne Bericht zu verlassen.

      »Wollten Sie zu mir?«

      Schröder schüttelte stumm den Kopf.

      »Es läuft doch alles wieder rund am Bodensee?«

      »Selbstverständlich. Kleine Verzögerung, kein Problem.«

      »Die Versicherung macht keine Schwierigkeiten?«

      »Sie haben Zahlungsbereitschaft signalisiert.« Es gelang ihm, ein selbstsicheres Lächeln zu simulieren. »Die haben ja gar keine Wahl nach dem eindeutigen Polizeirapport.«

      Matthes deutete ein Nicken an und verließ den Raum. Nachdem Schröder sich versichert hatte, dass noch keine Kopie im Umlauf war, ordnete er an, die gedruckten Exemplare zu vernichten und die E-Mail zu löschen.

      »Ein Irrläufer«, bemerkte er dazu. »So ersparen wir uns allen eine Menge Ärger. Sie werden den korrekten Bericht umgehend erhalten.«

      Im Flur wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn.

      BERLIN

      Die Anzeige des British Airways Fluges nach London blinkte.

      »Es wird Zeit«, seufzte Chris.

      Sie schlang die Arme um ihren Geliebten und presste sich an seine Brust, als könnte sie so einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Sie eignete sich ebenso wenig für solche Szenen wie Jamie. Dr. Jamie Roberts ließ ihre stürmische Umarmung über sich ergehen, wie man es von einem steifen Engländer erwartete. Dabei drückte sein Gesicht eine Art Betroffenheit aus, die kaum zu beschreiben war, irgendwo in der Mitte zwischen Wollust und Weltschmerz. Für diesen Gesichtsausdruck