Hansjörg Anderegg

Vernichten


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desto verletzter war sie, desto mehr graute ihr vor den dunklen Seiten des Jobs. Es gab eigentlich nur dunkle, schwarze Tage beim Mord, kaum je einen Lichtblick seit Jahren. Am schwersten waren die Tatorte mit Kindern zu ertragen.

      »Kann es sein, dass dein Sohn wieder Mist gebaut hat?«, fragte er, um sie abzulenken.

      Sie war zu angespannt, um zu antworten. Der Pathologe traf gleichzeitig mit ihnen beim Zimmer 412 ein. Der Hotelmanager und zwei seiner Mitarbeiter warteten auf dem Flur. Die Stimme des Direktors bebte, als er sie begrüßte.

      »Ein Ehepaar Meier hat das Zimmer für eine Nacht gebucht«, berichtete er, »Martha und Tobias Meier aus Berlin. Das Mädchen hat nicht mit ihnen eingecheckt. Wir wissen nicht, woher es kommt und weshalb es im Zimmer ist.«

      »Etwas müssen wir ja auch noch herausfinden«, brummte Gregori griesgrämig.

      Seine Partnerin und der Mediziner befanden sich bereits im Zimmer. Er atmete tief durch und trat ein. Nach den ersten Informationen hatte er eine ähnliche Szene erwartet, allerdings nicht so drastisch. Der Mann, der sich Tobias Meier nannte, lag mit einem Loch im Kopf halb auf dem Bett, halb auf einem kleinen Mädchen. Ein Blutfleck, groß wie das Kopfkissen, hatte sich auf dem erdfarbenen Bettüberwurf ausgebreitet wie der Entwurf zu einem neuen, abstrakten Design. Daneben saß seine Frau am Boden, Martha Meier, den Rücken ans Bett gelehnt, den Revolver noch in der Rechten, mit dem sie erst ihrem Mann das Licht ausgeblasen und dann sich selbst mit einer Kugel in die Schläfe gerichtet hatte. So sah es jedenfalls aus auf den ersten Blick. Das Kleid des Mädchens war hoch gerutscht, das Höschen sichtbar. Hatte die Frau ihren Mann überrascht, als er sich über die Kleine hermachte? Die Erklärung drängte sich förmlich auf. Alles passte zu dieser Vorstellung. Es passte zu gut. Die schreckliche Szene wirkte zu perfekt, wie arrangiert.

      Ein halberstickter Schrei ließ alle im Zimmer erstarren. Das Mädchen regte sich, sah das Blut, die toten Augen, die es anstarrten. Von panischer Angst ergriffen, schrie es lauter, strampelte verzweifelt, um sich von der Last zu befreien. Sofia reagierte als Erste.

      »Sie lebt!«, entfuhr es ihr unwillkürlich.

      Zusammen mit dem Arzt befreite sie die Kleine aus ihrer misslichen Lage, während sie ihr beruhigend ins Ohr flüsterte. Sie drückte sie sanft an ihre Brust, eine Hand schützend vor den Augen, damit sie die Leichen und das Blutbad nicht länger ansehen musste. Dann verließ sie mit ihr das Zimmer.

      »Das Kind weist keine äußeren Verletzungen auf«, versicherte der Arzt.

      Gregori brauchte die nächste Frage nicht zu stellen. Der Mediziner wusste ohnehin, was jedermann in dieser Situation auf der Zunge brannte. Er schüttelte den Kopf und sagte:

      »Soweit ich ohne Untersuchung beurteilen kann, wurde sie nicht missbraucht.« Nach kurzer Pause fügte er leise hinzu: »Zumindest nicht dieses Mal.«

      »Wurde sie betäubt?«

      »Sieht ganz danach aus. Ohne Untersuchung kann ich allerdings nur spekulieren. Das ist nicht meine Baustelle. Ich bin Rechtsmediziner und beschäftige mich mit den Toten, wie Sie wissen, Colonel.«

      Die Kleine war fürs Erste in guten Händen bei Sofia und den Kolleginnen von der Ambulanz. Jedenfalls hatte sie aufgehört zu schreien. Man hörte allerdings auch kein Wort von ihr. Sie schien eisern zu schweigen, was ihn nicht weiter erstaunte nach dem Schock.

      »Was sagen die Toten?«, fragte er den Arzt, der gerade die Hände der Frau und den Revolver untersuchte.

      »Es sind tatsächlich zwei Schüsse aus dieser Waffe abgefeuert worden, und die Hand der Frau weist Schmauchspuren auf.«

      »Sie hat also erst ihren Mann und dann sich selbst erschossen?«

      Gregori wollte trotz des Befundes nicht an diese Erklärung glauben. Weshalb wusste er selbst nicht. Das schiefe Grinsen auf dem Gesicht des Arztes erschien ihm daher wie ein Hoffnungsschimmer.

      »Ich frage mich allerdings, wie die Frau das bewerkstelligt hat«, sagte der Arzt. Er schob das Haar am Hinterkopf der Leiche etwas auseinander. »Sehen Sie, was ich meine?«

      Das blau angelaufene Hämatom war nicht zu übersehen.

      »Wurde sie niedergeschlagen?«

      Der Arzt nickte. »Und zwar mit einem harten, stumpfen Gegenstand und roher Gewalt, vermutlich mit einem Totschläger. Die Frau war kaum bei Bewusstsein, als sie die Kugel aus dem Revolver traf.«

      »Mord, wusste ich‘s doch! Die ganze Szene ist gestellt, um einen Doppelmord zu vertuschen.«

      Wieder nickte der Arzt und fügte an:

      »Der Mann kann jedenfalls nicht geschossen haben, bevor er selbst von hinten erschossen worden ist. Es gab keinen Kampf. Der Schuss muss ihn völlig überrascht haben. Auch die Frau weist keinerlei Abwehrverletzungen auf.«

      Das Team der Kriminaltechnik traf ein. Keine fünf Minuten vergingen, bis die beiden Geschosse sichergestellt waren. Beide tödlichen Schüsse stammten aus derselben Waffe, dem Revolver. Außer der Wunde am Hinterkopf der Frau gab es keine Spuren, die auf einen dritten Täter hindeuteten. Die Morde waren mit großer Präzision und Effizienz ausgeführt worden, eindeutig das Handwerk von Profis. Über Fingerabdrücke und DNA würden sie diesen Killer nicht identifizieren, war sich Gregori sicher. Ihre einzige Hoffnung ruhte im Moment auf den Aufzeichnungen der Überwachungskameras. Dumm nur, dass es auf dieser Etage keine gab. Kameras, die brauchbare Bilder lieferten, überwachten nur den Haupteingang, den Empfang und die Ein- und Ausfahrt der Tiefgarage. Die Befragung des Personals und der Zimmernachbarn auf der Etage ergab keine Hinweise auf Personen, die das Zimmer 412 betreten oder verlassen hatten. Alles andere hätte Gregori überrascht, Berufspessimist, der er war. Woher kam die Kleine? Irgendjemand musste sie hierher gebracht haben, denn sie hatte nicht mit den Meiers eingecheckt – der Mörder?

      Die Pässe bestätigten die Identität des Ehepaars. Ausländer aus dem reichen Westen, die sich in Sankt Petersburg Kinder beschafften für illegale Adoptionen oder um ihre pädophilen Fantasien auszuleben, waren leider nichts Ungewöhnliches. Amerikaner und Deutsche gehörten zu den Spitzenreitern. Mit Dollar und Euro ließ sich alles problemlos kaufen in seinem Land, dachte Gregori bitter. Früher hatte er sich bei jedem neuen Fall maßlos darüber geärgert, bis ihn ein vorwitziger Praktikant, der sonst zu nichts taugte, mit einem weisen Spruch aufklärte: Es ist sinnlos, sich über etwas zu ärgern, das man nicht ändern kann. Seither war er bescheidener geworden, versuchte nicht mehr, die Welt zu verbessern. Er beschränkte sich darauf, seine Arbeit mit Anstand zu erledigen. So, dass er morgens in den Spiegel schauen konnte, ohne sich zu ekeln. Er war daher nicht sonderlich beliebt bei vielen Kollegen, die gerne mal die Hand aufhielten, aber auch darüber war er längst hinweg.

      »Mir will nicht in den Kopf, dass niemand die Schüsse gehört hat«, sagte Sofia, die eben zur Tür hereinkam.

      Da ihm keine passende Antwort einfiel, erkundigte er sich nach der Kleinen.

      »Das Betreuungsteam kümmert sich jetzt um sie. Wie es aussieht, hat sie wohl Glück im Unglück gehabt und die Morde verschlafen.«

      »Sagt sie etwas?«

      Sofia schüttelte traurig den Kopf. »Kein Wort. Sie verschließt sich wie eine Auster. Es wird wohl dauern, bis wir sie identifizieren und befragen können.«

      »Wir müssen die Leute im Hotel ausquetschen. Vielleicht kennt sie ja jemand.«

      Sofia warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

      »Was glaubst du, tue ich die ganze Zeit? Die Befragung ist längst im Gang, bisher ohne Ergebnis. Wir gehen auch an die Presse.«

      Er nickte nachdenklich und brummte:

      »Wenn es das ist, was ich vermute, werden sich die Verantwortlichen hüten, bei uns anzutanzen.«

      »Wir müssen mit Berlin sprechen. Machst du das?«

      Die Kollegin, die sich um die Überwachungskameras kümmerte, unterbrach sie:

      »Wir haben sie!«

      Sie zeigte eine Szene der Kamera