führte sie an der Hand.
»Die Fahndung nach der Frau läuft«, beeilte sich die Kollegin zu versichern. »Sonst ist sie nirgends auf einer Aufzeichnung zu sehen.«
Gregoris Puls schnellte in die Höhe.
»Sie ist noch im Haus?«, rief er elektrisiert.
»Vielleicht – wir brauchen aber mehr Leute für die Durchsuchung.«
Die Kollegin trug die Bemerkung leise vor, als äußerte sie einen unverschämten Wunsch. Wütend bellte er ins Funkgerät, um Verstärkung anzufordern. Das Hotel musste augenblicklich abgeschottet werden, dass keine Ratte mehr durchkam. Ein frommer Wunsch und wahrscheinlich zu spät. Er wusste es, aber versuchen musste er es trotzdem.
»Die Frage hat sich wohl erübrigt«, seufzte Sofia und wandte sich ab.
Er erinnerte sich an keine Frage.
»Wohin gehst du?«
»Zurück ins Büro, Berlin anrufen.«
»Nett von dir.«
»Haha – Colonel Makarov scheint heute auch seinen witzigen Tag zu haben.«
Nicht unbedingt, aber ihr Englisch war bedeutend besser als seins. Eine Stunde, nachdem sie gegangen war, brach auch er auf. Das Hotel war nicht allzu groß, die Durchsuchung bald abgeschlossen. Von der Frau mit dem weißen Kopftuch fehlte jede Spur, und es gab keinen Hinweis auf eine ähnliche Person, die das Hotel im fraglichen Zeitraum verlassen hätte. Solang die Kleine schwieg, tappten sie völlig im Dunkeln. So sah es aus.
Sofia hing am Telefon, als er ins Büro zurückkehrte. Sie sprach Englisch. Berlin war am Draht. Ihr Gesicht verriet, dass sie sich angenehmere Arten vorstellen konnte, sich die Zeit zu vertreiben. Missmutig schaltete sie auf Lautsprecher, damit er mithören konnte.
»Sie versuchen, einen Zuständigen zu finden«, murmelte sie achselzuckend.
»Kommt mir bekannt vor«, brummte er.
»Hauptkommissarin Monika Weber, LKA Berlin«, meldete sich eine tiefe Frauenstimme im Lautsprecher.
Sofia stellte sie vor und kam sofort zur Sache:
»Heute Abend sind in einem Hotelzimmer in Sankt Petersburg zwei Tote entdeckt worden, ein Mann und eine Frau. Sie trugen deutsche Pässe auf sich, die sie als Tobias und Martha Meier ausweisen. Beim Einchecken haben sie Berlin als Wohnsitz angegeben.«
Es blieb totenstill in der Leitung, als gäbe es kein Netz.
»You still there?«, fragte Sofia irritiert.
»Ja – natürlich – was ist geschehen?«
Sofia schilderte den Tathergang, vorerst ohne das Kind zu erwähnen. Wieder entstand eine lange Pause. Diesmal hörte man leise, aufgeregte Stimmen im Hintergrund. Endlich meldete sich die deutsche Kommissarin mit der Bitte, Bilder der Toten und Kopien der Pässe zu übermitteln. Kaum waren die Fotos der Opfer in Berlin, kam auch schon die Bestätigung der Kommissarin Weber:
»Wir haben das Ehepaar Meier identifiziert und kennen den Wohnsitz.«
Zum ersten Mal schaltete sich Gregori ein:
»Sind die beiden aktenkundig?«
»Nein, keine Akte.«
»Auch nicht bei der Sitte?«
»Keine Akte heißt keine Akte«, antwortete die deutsche Kommissarin unwirsch.
Der Ton störte ihn nicht, wohl aber die Tatsache, dass die Frage ausblieb, weshalb er ausgerechnet die Sitte erwähnte. Zu seiner Überraschung stellte die Deutsche eine andere Frage:
»War noch jemand beim Ehepaar Meier zur Tatzeit? Gibt es Zeugen?«
Sofia warf ihm einen vielsagenden Blick zu, bevor sie das Mädchen erwähnte.
»Mein Gott – ist das Kind verletzt?«
»Das Mädchen ist wohlauf, steht aber unter Schock«, antwortete Gregori. »Es gibt noch keine Aussage. Wir übermitteln Ihnen unsere Akten mit dem Foto des Mädchens. Sie halten uns bitte auf dem Laufenden über Ihre Ermittlungen in Berlin.«
Der Rest war Routine. Sankt Petersburg würde die Leichen nach der Obduktion und dem Abschluss der Beweisaufnahme nach Deutschland überstellen. Er und Sofia mussten den Killer oder die Killerin jagen, die Deutschen die Familie informieren und deren Umfeld untersuchen, was vielleicht zu einem brauchbaren Motiv führen würde. Ein grausamer Routinefall wie viele andere, wäre da nicht das kleine, namenlose Mädchen, das eben durch die Hölle gegangen war, die er sich als Erwachsener nicht vorstellen konnte.
Berlin
»Oh – mon – Dieu – je vais m’évanouir!«, rief Jeanne entsetzt und machte Anstalten, in Ohnmacht zu fallen.
»Ein Cognac für Jeanne«, sagte Chris lachend zur Azubiene, die ratlos danebenstand. Jeanne hieß eigentlich Hans, stammte aus der dunkelsten Ecke Neuköllns und lebte für den großen Auftritt als elegante Französin.
»Was habe ich denn Schlimmes gesagt?«, fragte sie ihre frankophile Hairstylistin.
»Mein Gott, Frau Doktor Roberts – schlimm ist gar kein Ausdruck!«
Weiter kam Jeanne nicht. Ihr Brustkorb mit den – zugegeben perfekt modellierten – Silikonimplantaten hob und senkte sich in gefährlich rascher Folge. Sie fächerte sich mit der flachen Hand Luft zu, wandte sich ab und alarmierte die Belegschaft des Salons. Die Angestellten ließen ihre Kundinnen im Stich und eilten mit besorgten Mienen herbei. Der Betrieb stand still. Chris wusste jetzt, wie sich Schimpansen im Zoo fühlten. Wenigstens trennte die eine Glasscheibe von den Gaffern. Die Chefin bahnte sich einen Weg durch die Menge. Jeanne versuchte zu erklären, was sie so erschütterte, doch ihre Stimme versagte. Zu tief saß der Schock.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Frau Kommissarin?«, fragte die Chefin.
Chris spielte die Ahnungslose und zuckte die Achseln.
»Ich will mir nur den Zopf abschneiden lassen.«
»Nein!«, riefen die Umstehenden im Chor.
Die Aufregung war zu viel für Jeanne. Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich in die Arme der Kolleginnen fallen. Selbst die Chefin fand die Sprache nicht sofort wieder.
»Aber – haben Sie sich diesen Schritt auch wirklich gründlich überlegt?«, stammelte sie.
Jeannes Vorstellung war noch nicht zu Ende. Sie warf sich Chris zu Füßen und flehte sie an:
»Chère madame commissaire – erbarmen Sie sich meiner! Lassen Sie diesen bitteren Kelch an mir vorüberziehen! Zwingen Sie mich nicht, das Undenkbare zu tun, das schönste, längste, wundervollste Haar Berlins – was sage ich: die schönste Haarpracht Deutschlands! – brutal abzuschneiden!«
Jedem Satz folgte ein deutlich hörbares Ausrufezeichen. Chris tätschelte ihr mitfühlend die Hand.
»Ma chère, beruhigen Sie sich. Haare wachsen nach. Es muss einfach sein.«
»Aber warum in Gottes Namen? Hach – es ist eine Sünde.«
Jeanne blickte sich Hilfe suchend um und stellte die rhetorische Frage mit ersterbender Stimme:
»Ist es nicht eine wahre Sünde?«
Chris entschloss sich zu einer drastischen Maßnahme, um das Verfahren abzukürzen. Sie flüsterte Jeanne ins Ohr:
»Wenn Sie mir schnell einen schicken Kurzhaarschnitt verpassen, verrate ich Ihnen ein Geheimnis, das noch niemand kennt.«
Jeanne traute ihren Ohren nicht und warf ihr einen leidenden Blick zu. Erst Chris‘ Augenaufschlag überzeugte sie. Mit einem tiefen Seufzer scheuchte sie die Zuschauerinnen weg.
»Husch, husch, meine Lieben, zurück an die Arbeit, oder habt ihr nichts zu tun?«
Sie wartete mit dem Blick der Kindergärtnerin bis alle ihren Platz gefunden