Hansjörg Anderegg

Vernichten


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würden da schon einige Gründe einfallen«, gab Chris zu bedenken, »Geld, persönliche Konflikte, Rache, um nur die Üblichen zu nennen. Verstehen Sie mich richtig: Damit will ich nicht andeuten, dass mich diese Theorie überzeugt.«

      »Das ist Blödsinn«, stimmte Vogel zu. »Die Kollegen waren allseits beliebt und geachtet, lebten in geordneten Verhältnissen. Wir kennen – kannten – beide auch privat seit vielen Jahren.«

      Dieses Argument überzeugte zwar nicht, aber sie verzichtete auf Widerspruch. Es gab ein Dutzend andere Möglichkeiten, wie eine derart heikle Operation auffliegen konnte. Am wahrscheinlichsten erschien ihr ein tödlicher Fehler der Ermittler als Erklärung. Sie brauchte den Gedanken nicht auszusprechen. Monika Weber tat es für sie und provozierte eine heftige Auseinandersetzung mit ihrem Partner, offenbar einem guten Freund des ermordeten Malte Friedmann.

      »Wir alle machen Fehler«, warf sie ein, um die fruchtlose Diskussion zu beenden. »Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich jetzt mit dem Aktenstudium beginnen. Sie halten mich bitte auf dem Laufenden über die Entwicklung in Sankt Petersburg.«

      Die beiden Kommissare erhoben sich. Vor dem Verlassen des Zimmers sagte Monika Weber düster:

      »Ich habe Sie gewarnt.«

      Der Tag hatte so gut begonnen.

      Sankt Petersburg, Russland

      Major Sofia Yeltsova von der Kripo Sankt Petersburg blieb mitten auf dem Flur des Betreuungszentrums stehen. Ihr Partner Gregori Makarov ging zwei Schritte weiter, bis er es bemerkte.

      »Was ist jetzt schon wieder?«, brummte er ungehalten. »Wir sind so schon zu spät.«

      »Ach was, ich glaube, du verkennst die Lage.«

      »Welche Lage? Wir versuchen, die Kleine zum Sprechen zu bewegen. Was ist daran so schwer zu verstehen?«

      »Genau das ist es. Du verstehst es nicht.«

      »Verdammt, kannst du vielleicht Klartext reden, oder willst du mich nur ärgern? Das ist dir nämlich gelungen.«

      »Ist ja auch nicht schwierig bei dir.«

      Er drehte sich um und ging weiter. Es gab schon gute Gründe, weshalb er nach dem Tod seiner Frau Einsiedler geblieben war. Ihm fehlte das masochistische Gen, um eine wie Sofia auch noch außerdienstlich zu ertragen.

      »Jetzt warte doch mal! Hör zu!«

      Widerwillig blieb er stehen. Ihre Stimme klang besorgt, als sie weitersprach:

      »Ich meine, es wäre besser, wenn ich mich erst einmal allein mit der Kleinen unterhalten würde, so von Frau zu Frau, verstehst du?«

      »Was macht dich so sicher, dass sie weniger Angst vor Drachen als vor Drachentötern hat?«, fragte er giftig.

      »Du willst es nicht kapieren, oder? Die Kleine ist total traumatisiert. Niemand weiß, was die Schweine mit ihr angestellt haben …«

      »Schon klar, aber wer sagt uns, dass es männliche Schweine waren, dass sie Angst vor Männern haben soll?«

      »Darum geht es doch nicht. Ich möchte es einfach so sanft und langsam wie möglich angehen. Wenn wir jetzt zu zweit einfahren, war‘s das vielleicht schon.«

      Er verspürte ohnehin keine Lust auf die Psycho-Nummer, also gab er seinen Widerstand auf.

      »Versuch‘s meinetwegen. Ich besorge mir etwas zu trinken.«

      Er kehrte zum Kiosk zurück, der sich neben dem Eingang im Erdgeschoss befand. Nach kurzem Zögern nahm er ein ›Kvass‹ aus dem Regal. Das pasteurisierte, süße Zeug schmeckte ihm nicht, aber es schmeckte wenigstens nach etwas, nicht wie Wasser. Sein Großvater hatte ganz anderes ›Kvass‹ gebraut, das nach zwei Wochen Gärung am besten schmeckte. In einer Einrichtung für Seelenklempner konnte man natürlich keinen anständigen Drink erwarten. Mürrisch legte er die paar Münzen auf den Tisch bei der Kasse und wollte gehen, als ihm eine Schale mit ›Alenka‹-Riegeln auffiel. Er nahm zwei heraus, legte mangels Kleingeld einen Geldschein auf die Theke und wartete. Das Mütterchen an der Kasse rührte keinen Finger.

      »Worauf warten Sie?«, fragte er nach einer Weile.

      »Vielleicht fällt dem Herrn ja noch etwas ein«, keifte die Frau.

      Russen genießen nicht, sie ertragen – er müsste es allmählich wissen.

      »Wenn Sie keinen Wert auf mein Geld legen, konfisziere ich die Schokolade«, sagte er beiläufig und zeigte den Dienstausweis.

      Der Geldschein verwandelte sich vor seinen staunenden Augen in ein paar Kopeken Wechselgeld. Das ging so schnell, dass er die Handbewegung des Mütterchens kaum wahrnahm.

      »Spasibo.«

      Er nickte ihr freundlich grinsend zu, steckte die Riegel ein und verließ ihr Königreich.

      Sofias Methode schien nicht sehr erfolgreich zu sein. Er traf sie aufgeregt mit der Betreuerin diskutierend auf dem Flur vor dem Spielzimmer.

      »Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, an die Kleine heranzukommen«, sagte sie händeringend.

      Die Betreuerin, eine Kinderpsychologin, wie er auf dem Namensschild las, lächelte verständnisvoll.

      »Ich weiß, es ist für Laien schwer zu verstehen, aber das Verhalten des Mädchens ist unter den gegebenen Umständen völlig normal. Es leidet unter einem schweren Schock. Darauf reagieren Kinder im Wesentlichen auf zwei verschiedene Arten. Die einen reden und hören nicht mehr auf, bis alles gesagt ist, was sie bedrückt. Andere schweigen wie ein Grab, weil sie nicht über das Erlebte sprechen können. Sie erinnern sich nicht, oder die Erinnerung ist so schmerzhaft, dass ihr Gehirn sie temporär verdrängt, ein Selbstschutzmechanismus.«

      »Und wie lange dauert dieses Schweigen?«, wollte er wissen.

      »Tage, Monate – ich weiß es nicht. Im Moment wären wir schon froh, sie würde wenigstens etwas essen. Wahrscheinlich verschwenden Sie nur Ihre Zeit. Sie können nichts erzwingen.«

      Sofia schüttelte den Kopf. »Ich versuch‘s trotzdem noch einmal.«

      Diesmal ließ er sich nicht abwimmeln. Sie betraten das Spielzimmer, argwöhnisch beobachtet von der Psychologin. Das Mädchen saß in einer Ecke am Boden, eine Stoffpuppe auf dem Schoß, mit der es aber nicht spielte. Apathisch sah es den andern drei Kindern zu, die mit einer Betreuerin den Kinderreim »Soroka, Soroka« – »Elster, Elster« übten und dazu klatschten.

      »Gibt es ein Zimmer, wo wir sie allein sprechen können?«, fragte er leise.

      Die Psychologin schüttelte den Kopf. »Hier fühlt sie sich einigermaßen geborgen. Warten Sie, ich schicke die Gruppe weg.«

      Nachdem sie einige Worte mit der andern Betreuerin gewechselt hatte, forderte die ihre Kinder auf, ihr zu folgen. »Polonez« war das Stichwort, worauf das Grüppchen klatschend und tanzend das Zimmer verließ. Die Kleine mit der Puppe folgte mit den Augen, regte sich aber nicht. Sofia näherte sich vorsichtig, ging in die Hocke und begann ruhig zu sprechen, ein warmes Lächeln im Gesicht, soweit es das zuließ. Sie fragte nach dem Befinden und stellte ihren Partner mit Vornamen vor. Das Mädchen hörte stumm zu. Die Blicke ruhten abwechselnd auf den drei Erwachsenen. Ihn beschlich das unangenehme Gefühl, sie kehrten häufiger zu ihm zurück als zu den zwei Frauen. Sofia deutete auf die Puppe und fragte:

      »Verrätst du mir, wie sie heißt?«

      Der Blick des Mädchens wanderte wieder zu ihm, als wüsste er die Antwort. Einer Eingebung folgend, sagte er:

      »Lass mich raten. Heißt sie – Anastasia?«

      Es war der erste Name, der ihm einfiel, außer Sofia. Die Kleine schüttelte fast unmerklich den Kopf, die erste Reaktion auf eine Frage. Ihre Augen hingen an seinen Lippen. Es blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Während er tief in seiner Erinnerung nach andern, beliebten Mädchennamen forschte, versuchte es Sofia mit Vorschlägen, die allesamt unbeachtet verhallten. Er war am Zug.