»Heißt sie vielleicht – Alenka?«
Die Reaktion überraschte alle. Die Kleine packte den Riegel, legte ihn mit der Puppe neben sich auf den Boden, sprang auf und begann, sich zu entkleiden. Er erschrak dermaßen, dass er unwillkürlich zwei Schritte rückwärts taumelte und dabei fast seine Partnerin zu Boden riss. Das Mädchen hielt verstört inne, ein Glück für alle Beteiligten. Die Psychologin schien als Einzige zu begreifen, was geschah. Im Nu ließ sie den ›Alenka‹-Riegel verschwinden, zog das Mädchen sanft zu sich und sprach beruhigend auf sie ein. Gleichzeitig bedeutete sie den Kommissaren mit energischen Handbewegungen, das Zimmer zu verlassen.
»Hat ja wunderbar geklappt«, fauchte Sofia ihn wütend an.
Noch immer perplex von der Reaktion des Kindes, hörte er nicht zu. Als Laie, der nicht einmal verstand, was in seinem eigenen Kopf vorging, begriff er nur, was offensichtlich war. Der Schokoriegel wirkte als Auslöser für das seltsame Verhalten, oder war es der Name Alenka?
»Hast du verstanden, was ich gesagt habe?«
Es konnte nichts Gutes sein, schloss er aus dem Wetterleuchten in ihren Augen. Er brauchte nicht zu antworten. Die Tür ging auf. Die Psychologin, das Mädchen an der Hand und sichtbar erleichtert, winkte sie herein. Kaum im Zimmer, hörten sie das erste Wort aus dem Mund der Kleinen: »Natascha«.
»Du heißt Natascha?«, fragte Sofia erfreut.
Das Mädchen schüttelte den Kopf, streckte die freie Hand aus und wiederholte den Namen: »Natascha.«
Es kommunizierte, wenn auch einigermaßen rätselhaft. Wieder war es die Psychologin, die das Mädchen verstand.
»Die Puppe!«, rief sie aus. »Du meinst die Puppe. Sie heißt Natascha, nicht wahr?«
Das Mädchen wand sich los, holte die Puppe und presste sie ans Herz. »Natascha«, flüsterte es wiederholt. Tränen traten in seine Augen. Das Kind begann leise zu schluchzen.
»Es ist besser, wenn Sie uns jetzt wieder allein lassen«, flüsterte die Psychologin.
Rein, raus – allmählich verlor er die Geduld. Die Situation überforderte ihn. Nicht nur ihn, wie ihm Sofias Achselzucken auf seine Frage nach dem »Wie weiter?« signalisierte.
Er zog den zweiten Riegel aus der Tasche und hielt ihn Sofia hin.
»Alenka?«
Sie nahm die Schokolade ohne Zögern und begann schweigend zu essen. Sekunden später hatte sie das süße Zeug verschlungen und reichte ihm die zerknüllte Verpackung. Er rang sich ein ironisches Lächeln ab.
»Spasibo. Fahren wir zurück ins Büro?«
Sie schüttelte den Kopf und fand endlich die Sprache wieder.
»Jetzt nicht. Ich habe das Gefühl, sie wird bald reden nach deiner Schokotherapie.«
»Die wirkt offenbar auch bei dir.«
»Nein im Ernst, Gregori. Was immer dein Schokoriegel ausgelöst hat, es wird uns weiterhelfen.«
»Toll, dass ich helfen konnte«, brummte er, ohne ihren Optimismus zu teilen.
Er glaubte nicht daran, dass das immer noch namenlose Mädchen selbst überhaupt wusste, woher es kam und wer es ins Hotelzimmer verschleppt hatte. Langsam aber sicher sehnte er sich zurück ins Büro, ein Gefühl, das er bisher nicht gekannt hatte.
»Was wird aus der Kleinen?«, fragte er.
Er kannte die Antwort, überließ es aber gerne seiner Partnerin, die brutale Wahrheit auszusprechen. Sie tat es ohne Wenn und Aber:
»Sie wird in ein Waisenhaus gesteckt, wo man sie bei nächster Gelegenheit an eine andere Bande verkauft – oder an dieselbe.«
»Das dürfen wir nicht zulassen.«
»Nein.«
Damit war das Thema vorerst erledigt. Keiner kannte ein Rezept, um die Zustände zu ändern. Wie Angehörige vor dem OP gingen sie schweigend auf dem Flur auf und ab, bis sich die Tür zum Spielzimmer wieder öffnete. Die Psychologin trat heraus, zufrieden lächelnd.
»Jelena zeichnet.«
»Jelena?«, riefen sie wie aus einem Mund.
Die Psychologin nickte. »Sie heißt Jelena, einfach nur Jelena. An einen Nachnamen erinnert sie sich nicht. Natascha heißt übrigens ihre Freundin.«
»Die Puppe.«
»Auch, aber die heißt nur so wegen ihrer echten Freundin. Sie vermisst sie und will sie suchen. Sie kennt ihre Adresse nicht, aber ich habe ihr vorgeschlagen, das Haus zu zeichnen.«
»Sie sollten bei der Polizei arbeiten«, sagte er mit breitem Grinsen.
Die Hoffnung kehrte zurück. Der Ausflug in die Tiefen der Kinderseele war womöglich doch nicht ganz sinnlos. Erstaunt stellte er fest, dass Jelena an seinem Schokoriegel knabberte, während sie mit Farbstiften malte. Sie verhielt sich wie ein normales Kind, als hätte sie auf einen Schlag alles Schreckliche vergessen, was sie erlebt hatte. Sie antwortete auf Sofias vorsichtige Fragen, ohne von der Zeichnung aufzublicken.
Nicht nur ihr Bild, auch das Bild vor seinem geistigen Auge nahm Konturen an. Jelena und ihre etwas ältere Freundin Natascha hatten offenbar nicht in einem Waisenhaus gelebt, eher in einer Art Wohngemeinschaft, zusammen mit fünf weiteren Mädchen und einer wechselnden Gruppe Erwachsener. Aus Angst vor einem Rückfall wagten sie nicht zu fragen, was diese Leute mit ihnen angestellt hätten. Wichtig war zuerst einmal, das Haus zu finden. Seine Hoffnung schwand ein gutes Stück, als er erfuhr, dass die Kinder dort nur im Dvor, im Innenhof, spielen durften. Jelena hatte das Haus nur einmal kurz von außen gesehen, als sie zum Hotel gefahren wurde.
Die Zeichnung war fertig. Sie zeigte eine rote Fassade mit winzigen Fenstern, vier Stockwerke hoch, die unterste Reihe der Fenster vergittert. In der Mitte der Fassade befand sich ein schwarzes Loch, das offenbar das geschlossene Tor zur Straße darstellte. Im Hof standen sieben Strichmännchen, die sieben Kinder. Von den Erwachsenen fehlte jede Spur. Jelena blendete sie aus. Gregori konnte es ihr nicht verdenken. Ein vierstöckiges rotes Haus mit Innenhof – davon gab es Dutzende, wenn nicht Hunderte in Sankt Petersburg.
»Gibt es noch etwas, was du am Haus oder in der Nähe gesehen hast, Jelena?«, fragte er.
Sie schluckte den Rest der Schokolade hinunter, leckte sich die Finger und dachte nach. Plötzlich griff sie zum schwarzen Stift und zeichnete etwas neben den Fenstern auf die Fassade. Es sah aus wie ein großes Strichmännchen, aber es besaß Hörner.
»Dyavol«, erklärte sie dazu. »Jemand hat den Teufel an die Wand gemalt.«
Ein Graffiti – im Innenhof, auch nicht gerade selten und nicht eben hilfreich, um das Haus zu finden.
»Erinnerst du dich sonst noch an etwas? Liegt das Haus vielleicht an einer großen Straße, an einer Kreuzung, fährt die Bahn vorbei?«
»Nein, nein, die Straße liegt an einem Kanal. Wir sind über eine Brücke gefahren.«
»Gibt es außen am Haus auch solche Graffiti wie der Dyavol?«
»Nicht wie der Dyavol, nur schwarze Striche.«
Die Kleine hatte eine Menge beobachtet, obwohl sie wahrscheinlich die ganze Zeit im roten Haus gefangen gehalten worden war.
»Danke, Jelena, du hast du uns sehr geholfen«, sagte Sofia.
Die Erleichterung war ihr anzuhören. Mit etwas Glück würden sie das Haus mit diesen Angaben finden. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Rotes Haus, Graffiti, Kanal – die Kombination weckte Erinnerungen. Im Moment, als ihm einfiel, woran er sich erinnerte, fragte Jelena:
»Gehen wir jetzt Natascha suchen?«
»Genau das machen wir«, platzte er heraus, bevor die beiden Damen etwas entgegnen konnten. Er streckte die Hand aus. »Kommst du mit? Wir brauchen deine Hilfe.«
Völlig überrumpelt, bearbeitete