Hansjörg Anderegg

Vernichten


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zögerte auszusteigen, obwohl sie eigentlich leichten Herzens hätte aus dem Auto ins Haus und in Jamies Arme springen müssen. Hier in Dahlem war alles perfekt. Das hoffentlich nicht mehr lange kinderlose Ehepaar Roberts bewohnte eine der schönsten Villen im vornehmen Viertel, einen Prunkbau aus der Jahrhundertwende, um den sie jeder Yuppie Investmentbanker beneiden würde. Ein alter Freund mit Verbindungen zum preußischen Hochadel überließ ihnen das Haus mit der einzigen Auflage, es zu bewohnen – zu einem lächerlich niedrigen Mietpreis, den zu zahlen sie sich fast schämte.

      Im Gegensatz zu ihr besaß Jamie, Engländer und Arzt in der medizinischen Forschung, gleich zwei grüne Daumen. Der ehemals wild wuchernde Garten hinter dem Haus hatte sich daher in ein naturnahes Paradies verwandelt mit einem Kräutergarten, der jedem Kloster wohl anstünde. Eine Stunde bei gutem Wetter in diesem Garten war die bessere Medizin, um den Dreck loszuwerden, dem sie bei ihren Ermittlungen begegnete, und wieder herunterzukommen, als eine Dosis Benzodiazepin. Sogar der Pavillon unter der alten Buche sah jetzt, frisch gestrichen, einladend aus.

      Im Dachgeschoss befand sich das Musikzimmer mit einem Oberlicht, das ihr das Gefühl gab, auf Wolken zu schweben. Das war ihr Reich. Jamies Epizentrum befand sich im Erdgeschoss. Seine Küche mit Fenstern zum Garten diente nicht nur als Labor für raffinierte kulinarische Experimente. Der gemütliche Raum beherbergte auch den längsten Küchentisch, den sie je gesehen hatte, und war Mittelpunkt nächtelanger Diskussionen und leider allzu seltener Treffen mit Freunden.

      Jetzt hatte auch sie sich erneuert und trug ein Geheimnis in sich, das ihrer beider Glück nochmals steigern würde. Besser ging es nicht. Warum also zögerte sie?

      Das Aktenstudium im LKA hatte ihr plastisch vor Augen geführt, was sie zwar schon immer gewusst aber bisher stets erfolgreich verdrängt hatte: Sie lebten in einer Welt, in der man Kinder missbraucht und wegwirft, wenn sie zu alt werden – wie seelenloses Spielzeug, dem man entwächst. Wie konnte sie da glücklich sein in ihrem Paradies in Dahlem? Vor dem Rückspiegel übte sie das entspannte Lächeln, mit dem dieser wichtige Tag enden sollte, bevor sie ausstieg.

      Jamie befand sich nicht im Haus. Sie ging in die Küche. Die Tränen zuvorderst, betrachtete sie die Leckereien, die ihr Kochkünstler als Requiem für den verlorenen Zopf aufgetürmt hatte. Gambas an scharfer Weißweinsauce, Datteln im Speckmantel, marinierte Paprika, Champignons mit Chorizo und natürlich die spanische Version von Bruschetta mit Jamón: Häppchen, die sie auf Anhieb erkannte. Die andere Hälfte der festlichen Tafel bestand aus neuen Kreationen, die sie noch nie gekostet hatte. Im Kühlschrank warteten bestimmt die Förmchen mit Jamies legendärer Crème brûlée, denn der Bunsenbrenner stand schon bereit. Der Gute hatte sich selbst übertroffen und war nun dabei, den Pavillon zu schmücken, wie sie beim Blick aus dem Fenster bemerkte. Warum konnte sie die quälenden Bilder in ihrem Kopf nicht einfach einen Abend lang vergessen und sich dieser Orgie hingeben? Ärger über ihre Unfähigkeit, einfach nur glücklich zu sein, gesellte sich zur Trauer über die verlorenen Kinder im Aktenberg des LKA.

      Er trat aus dem Pavillon, sah sie im Küchenfenster und erstarrte. Ihr gezwungenes Lächeln mochte auf die Entfernung ganz entspannt wirken. Nach dem ersten Schreck grinste er breit, warf ihr eine Kusshand zu, griff sich ans Herz, verbeugte sich und dankte pantomimisch dem Himmel, bevor er in großen Sätzen aufs Haus zu rannte. Sein Theater rührte sie noch mehr zu Tränen. Er stürmte in die Küche, während sie die feuchten Augen abtupfte, was er als Zeichen überbordender Freude interpretierte. Er küsste sie lange, bevor er sein Urteil abgab. »Scharf«, lautete das erste Adjektiv zur neuen Frisur.

      »Gib schon zu, es gefällt dir nicht«, jammerte sie scheinbar enttäuscht, ohne ihn anzusehen.

      »Was meinst du?«

      Dabei grinste er so unverschämt, dass sie wider Erwarten lachen musste.

      »Ich wusste es!«, rief sie aus. »Du hast nur meinen Zopf geliebt.«

      Zu ihrer Überraschung stimmte er zu, immer noch grinsend.

      »Das war so bei der alten Chris. Die neue Mrs. Roberts aber würde ich auf der Stelle heiraten, wäre ich noch zu haben.«

      Da ihr die angemessene Antwort nicht sogleich einfiel, presste er sie an seine Brust und wiederholte das erste Adjektiv, dem sogleich weitere aus derselben Kategorie folgten, wobei die Stimme immer tiefer in den Keller sank:

      »Entzückend, bezaubernd, hinreißend, verführerisch, unwiderstehlich – bloody sexy!«

      »Mehr fällt dir dazu nicht ein?«

      Ein gezwungenes Lächeln begleitete den kläglichen Versuch, britisch cool zu wirken. Er spürte, dass sie lieber weinen statt lachen wollte.

      »Stimmt etwas nicht, Liebling? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

      Sein betroffenes Gesicht verdiente einen weiteren Kuss. Sie schüttelte traurig den Kopf.

      »Es hat nichts mit dir zu tun. Ich – hatte einfach einen schlechten Tag. Es tut mir leid, Liebster. Du hast dir solche Mühe gegeben … Ach, es ist zum Heulen.«

      Diesmal tupfte er ihr die feuchten Augen ab.

      »Deine Arbeit frisst dich noch auf«, murmelte er. »Aber setzen wir uns doch, essen ein Häppchen, trinken ein schönes Glas Rioja dazu und reden darüber.«

      Sie versuchte es, doch selbst die zarten Paprikastücke blieben ihr im Halse stecken. Sie trank einen winzigen Schluck Rotwein und sah ihm eine Weile beim Essen zu. Dann gab sie sich einen Ruck, räusperte sich und wollte die wichtigste Neuigkeit des Tages verkünden. Mitten im Satz stockte sie und entschuldigte sich.

      »Was wolltest du mir sagen?«, fragte er beunruhigt.

      »Ach nichts – nicht jetzt.«

      Es war kein Tag für gute Nachrichten. Sie sah ihm tief in die Augen und hoffte, er würde ihr ehrliches Bedauern spüren.

      »Es tut mir leid, Jamie. Heute ist einfach nicht mein Tag. Bitte entschuldige mich.«

      Er blickte ihr kauend nach, wie sie auf leisen Sohlen die Küche verließ. Lange stand sie unter der Dusche, doch die Bilder in ihrem Kopf ließen sich nicht abwaschen. Er verstand, dass sie jetzt Zeit für sich alleine brauchte. Erst viel später, als er glaubte, sie schliefe, trat er kurz an ihr Bett, streichelte über die neue Haarpracht, hauchte einen Kuss auf ihre Wange und verließ das Zimmer, um unten auf der Couch zu schlafen. »Du hast diesen Mann nicht verdient«, war der letzte Vorwurf, mit dem sie sich diesen schönen Tag versaute, bevor sie einnickte.

      Sie erwachte schweißgebadet. Der Albtraum lastete auf ihr, als säße ein Nachtmahr auf ihrer Brust und hinderte sie am Atmen. Sie hatte geträumt, das stand fest. Geblieben waren nur Erinnerungsfetzen, genug, um ihr Angst einzujagen. Sie hatte auf der falschen Seite gestanden, sich so intensiv um ihr eigenes Kind gekümmert, um es vor der bösen, bösen Welt zu beschützen, wie die Perversen in den Akten. Und sie hatte Lust dabei empfunden. Es war das Schlimmste, woran sie sich erinnerte.

      Ächzend erhob sie sich und dankte der Vorsehung, dass Jamie nicht neben ihr lag. Der Magen fühlte sich leer an, als hätte sie tagelang gefastet. Sie wünschte, es gäbe eine verlässliche Methode, um so etwas mit dem Kopf anzustellen. Lust auf pädophile Handlungen! Wie widerlich war das. War sie auch so eine? Steckte der schlimme Keim in allen Erwachsenen? Kleine, wehrlose Kinder zum eigenen Lustgewinn zu missbrauchen ist doch die abscheulichste Form von Kindesmisshandlung, weil sie die Seele zerstört. Solche Wunden heilen nie. Sie ekelte sich vor sich selbst und mied den Blick in den Spiegel, bis sie heiß geduscht hatte. Sie musste dringend etwas unternehmen, um den Kopf freizukriegen. Es war erst sieben Uhr früh, Jamie vielleicht noch im Haus.

      »Jamie?«, rief sie auf der Treppe zum Wohnzimmer. »Wir müssen reden.«

      Statt einer Antwort hörte sie ihr Handy klingeln.

      »Sie sollten herkommen«, sagte Hauptkommissarin Monika Weber vom LKA. »Wir haben den Bericht aus Sankt Petersburg erhalten.«

      »Schon unterwegs.«

      Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Jamie: Wir holen das nach. Ich liebe die neue Chris. Lächelnd