Ralf Kramp

Noch ein Mord, Mylord


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ja ein unglaublicher Zufall.«

      Merridews Gesicht rötete sich schlagartig. Er ballte die Hände zu Fäusten. »Zufall?«, polterte er laut. »Wo denken Sie hin? Das sind Taktik und Kalkül! So etwas fällt einem nicht mal gerade eben vor lauter Langeweile beim Fünfuhrtee ein!«

      »Ist ja schon gut. Sie haben natürlich recht, das war sehr klug eingefädelt. Und der zweite Anruf?«

      »Mit dem verschaffte ich mir die allerletzte Gewissheit. Ich rief im Black Boy Hotel in Nottingham an und erkundigte mich, ob ein gewisser Mr Carruthers in der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober dort übernachtet hat.«

      »Aber wie kamen Sie denn darauf?«

      »Wenn es jemand aus der Theatertruppe war, der ihn mit dem Wissen um seine Tat unter Druck setzt, dann konnte das nicht nur aus einem einmaligen Beobachten am Tatort erwachsen. Da musste mindestens eine zweite Begegnung nebst Wiedererkennen stattgefunden haben. Warum nicht beispielsweise auf dem Hotelflur? Jedenfalls lag ich auch hier richtig! Er trug sich mit seinem echten Namen ein. Wie unglaublich einfallslos! Aber so konnte auch seine Peinigerin herausfinden, wer er war.«

      »Sie meinen also, es war diese Schauspielerin Mignon O’Doherty, die ihn per Annonce gequält hat!«

      »Aber nein.«

      Ein junger livrierter Mann gab uns in diesem Moment ein deutlich sichtbares Zeichen, nun wieder unsere Plätze einzunehmen. Merridew forderte mit einem ruppigen Wedeln der rechten Hand einen Moment Geduld.

      »Nein?«, fragte ich ungläubig. »Wieso nicht? Ihre Unterschrift stand doch auf der Einladung!«

      »Falsch!« Merridew kramte ein kleines Notizblöckchen aus der Innentasche seines Jacketts und blätterte mit seinen dicken Fingern darin herum. »Das Autogrammbüchlein meines Butlers Cresswell. Er ist klammheimlich ein gefühlsduseliger alter Bursche und liest heimlich Romane von Barbara Cartland. Sein Herz schlägt für den Kintopp und das Theater, und als er erfuhr, dass ich heute Abend hierhin wollte, bat er mich, ein paar Autogramme für ihn einzusammeln. Besonders scharf ist er auf die Signatur von Sheila Sim, die er wohl vergöttert.« Dann hielt er mir das Heftchen aufgeschlagen entgegen. »Schauen Sie mal, das ist die Unterschrift von Mignon O’Doherty, die hat er bereits. Ich kann Ihnen versichern, dass das Geschreibsel auf Carruthers’ Einladung ohne jeden Zweifel eine plumpe Fälschung ist. Den Unterschied konnte ich mit großer Deutlichkeit erkennen.«

      »Aber wer hat Carruthers denn dann in Wirklichkeit eingeladen? Und warum wurde er überhaupt mit der Eintrittskarte hierherbestellt?«

      »Er wurde von einer Person in diese tückische Mausefalle gelockt, die der Überzeugung war, dass er jetzt endlich völlig verzweifelt und ausreichend alarmiert war, dass er nun zu allem bereit sein würde. Jemand, der ihn dazu bringen wollte, seine angebliche Peinigerin, die völlig ahnungslose Mignon O’Doherty zu ermorden!«

      Ich starrte ihn an. Das, was er da vor mir ausbreitete, war schlichtweg unglaublich.

      »Ich tippe auf die Zweitbesetzung, eine Schauspielerin mit Namen Marjorie Blankinsopp. Die Dame an der Kasse erzählte mir, dass sie wohl bei der Besetzung der Mrs Boyle den Kürzeren zog und jetzt Abend für Abend hinter den Kulissen herumlungern muss, in der Hoffnung, Mignon O’Doherty breche sich endlich mal die Hand, ein Bein, oder noch besser gleich das Genick. Ja, ich denke, sie wird es gewesen sein, die vom Hotelzimmer aus den Mord beobachtete, danach dem Mörder im Hotel begegnete und ihre Chance witterte! Wenn sie es war, wird ihre Handschrift auf der Einladung sie überführen. Aber andererseits ist es irgendwie auch egal, wer die anonyme Strippenzieherin war, denn sie hat ja schließlich keine echte Straftat begangen.«

      Der Jurist in mir meldete sich zu Wort. »Na, na, sie hat immerhin einen Mord beobachtet und ihn nicht gemeldet.«

      »Dafür ist aber letztendendes gerade durch ihre Aktivität der Mörder in die Falle gegangen.« Er trat in den Saal ein und drehte sich grinsend zu mir um. »Und durch meine natürlich.«

      Der livrierte Saaldiener hatte schon den Griff der Tür in seiner Hand, um sie hinter uns zu schließen, da schoss mir mit einem Mal ein fürchterlicher Gedanke durch den Kopf: »Hören Sie, Merridew!« Ich fasste ihn am Arm. »Mignon O’Doherty starb am Ende des ersten Akts ihren Bühnentod. Das heißt doch, dass sie sich bis zum Schlussapplaus in großer Gefahr befindet! Wenn gleich irgendwann alle anderen auf der Bühne sind, kann Carruthers sie doch in aller Ruhe hinter den Kulissen zum Schweigen bringen!«, zischte ich. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass einige Theaterbesucher verärgert zu uns herübersahen. Besonders diejenigen, an den wir uns jetzt gleich würden vorbeiquetschen müssen, hatten überaus angriffslustige Mienen aufgesetzt.

      »Keine Sorge, mein Guter«, sagte Merridew und schob mich sanft auf die Stuhlreihen zu. »Sie glauben doch nicht, dass ich so etwas zugelassen hätte. Beim Schlussapplaus, das verspreche ich Ihnen, wird Mrs O’Doherty unbeschadet auf der Bühne erscheinen. Bevor das Stück begann, habe ich mir nämlich im allerletzten Moment erlaubt, diesen Carruthers in der Toilette einzusperren, nachdem ich ihn zuvor ein wenig unsanft aus dem Verkehr gezogen habe. Sie dürfen mir glauben, dass ich mit diesem Hänfling im Handumdrehen fertiggeworden bin. Dazu hätte ich noch nicht einmal meinen Gehstock gebraucht. Und dann habe ich noch rasch den dritten und letzten Anruf getätigt, mit dem ich die Polizei davon in Kenntnis gesetzt habe, dass sie hier im Ambassador Theater einen Mörder abholen kann. Das scheint wohl auch geschehen zu sein. Haben Sie mitbekommen, dass während des ersten Akts hinter den Kulissen eine Verhaftung stattgefunden hat? Sehen Sie, ich auch nicht. Die Burschen von Scotland Yard waren offenbar überaus diskret.«

      Mit mühsam unterdrückten Flüchen erhoben sich die Leute in unserer Reihe aus ihren Sitzen, um uns vorbeizulassen. Wir blickten in grimmige Gesichter und ernteten hasserfüllte Blicke. Merridew verspürte offenbar nicht den Anflug von Peinlichkeit, denn er gluckste und kicherte nur allenthalben und rief immer wieder laut »Verzeihung, Teuerste« oder »Hoppla, mein Bester«. Und irgendwann saßen wir auf unseren Stühlen und atmeten tief durch.

      »Glauben Sie, das Stück wird lange laufen?«, fragte ich.

      Er überlegte einen Moment, bevor er antwortete: »Vermutlich nicht so lange wie das Zeug von Sophokles oder Euripides, aber jedenfalls länger als die neue Show von Frankie Howerd in Blackpool.«

      Ich fand diese Antwort sehr diplomatisch.

      Es wurde still um uns herum, und das Saallicht verlosch langsam.

      Da kam mir noch eine letzte Sache in den Sinn: »Sie haben nun also einen Mord aufgeklärt und sogar einen zweiten Mord verhindert«, wisperte ich meinem Freund so leise es ging zu. »Aber Sie sprachen vorhin doch sogar noch von einem dritten Mord.«

      Bevor es im nächsten Moment um uns herum völlig finster wurde, sah ich gerade noch Merridews Augen aufblitzen. Er beugte sich mit einem schwerfälligen Schnaufen zu mir herüber und raunte mir ins Ohr: »Ich werde Ihnen jetzt verraten, wer die einzige Person ist, die den Mord in Monkswell Manor begangen haben kann.«

      Als sich der Vorhang mit einem leisen Rauschen öffnete, nannte Merridew mir den Namen, und ich wusste ganz genau, dass er auch in diesem Fall wieder einmal richtig liegen würde.

      DAS RÄTSEL DER VERSCHWUNDENEN TÄNZERIN

      (1956)

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      In der Tube herrschte an diesem Vormittag drangvolle Enge, so wie an jedem Arbeitstag. Berufspendler mischten sich mit Touristen aller Hautfarben. Im Sommer war London bis zum Rand gefüllt mit einem quicklebendigen Vielvölkergemisch, das es schaffte, uns steife Briten mit unseren Bowler Hats, den schwarzen Businessanzügen und dem am Arm baumelnden unentbehrlichen Schirm noch mürrischer aussehen zu lassen als sonst. Man versteckte seine griesgrämigen Gesichter hinter dem Daily Mirror, dem Guardian, der Times oder der Daily Mail, je nach politischer Gesinnung.