wir uns immer wieder auf der Straße, manchmal zweimal am Tag, manchmal Monate nicht. Oft treffe ich ihn auf der Schönhauser, auf der Kastanienallee oder sonst wo in Prenzlauer Berg, seltener in Mitte. Vorgestern erst habe ich ihn an der Eberswalder gesehen, er überquerte die Danziger. Er wohne nun in der Christburger Straße, erzählt er, nicht mehr an der Schönhauser Allee, in einer Umsetzwohnung – »So etwas gibt es noch?«, frage ich dazwischen – mit begrüntem Hof und wohlerzogenen Kindern im Haus, weshalb es ihm dort eigentlich nicht gefalle. Es sei viel zu schön und renoviert für ihn, und er, der Ur-Prenzlauer-Berger, fühle sich unter all den Neuberlinern dort nicht wohl. »Kannste dir ja denken«, sagt er. Und wie er das sagt, glaube ich mich wie immer ein bisschen mitgemeint, obgleich er das wahrscheinlich abstreiten würde. Dass ich zwanzig, bald dreißig Jahre früher hier war, heißt ja nichts. Hinzugekommen bin ich doch.
Er sei gerade dabei, sein Lebenskonzept zu überdenken, seine Peripatetik, seine Zwangs-Peripatetik, er müsse sich ja immerzu bewegen, immer gehen. Er zählt auf, welche Orte er täglich ansteuere, immer zu Fuß: die Rumbalotte, die Papenfuß-Kneipe, die sich jetzt in der Berliner Straße, in der früheren Willner Brauerei befinde; das Watt (dort, wo davor die Rumbalotte war); das Metzer Eck; das Krüger. Wo er halt Leute treffe, Leute von früher. Leute aus dem Osten. Die Fußball-Europameisterschaft werde sogar in der Paul-Gerhardt-Kirche übertragen, sagt er, die Deutschlandspiele zumindest. Die Paul-Gerhardt-Kirche, verrät er auf meine Nachfrage, das sei die Kirche in der Wisbyer Straße, der dunkle Backsteinbau; es sei dort schön kühl. Und so viele Schäfchen wie zu den Spielen der DFB-Auswahl fänden sonst wohl nur zu Weihnachten in dieses Gotteshaus. Abendmahl werde allerdings keines ausgegeben.
Er ist dann, er fragt nach ihr, ganz verwundert, dass Martha schon sechzehn ist. Er kennt sie noch vom Arnimplatz, im Sand auf dem Spielplatz und im Kinderwagen. »Geht sie heute in den Mauerpark, kiffen?« – »Selten«, antworte ich, und erzähle ihm, dass ich dank ihrer Leichtathletik-Karriere bald alle peripheren Stadien Berlins kenne: das Stadion an der Allee der Kosmonauten, das am Südring, das in Lichterfelde, das schöne Stadion mit den reetgedeckten Nebengebäuden in Hakenfelde und noch einige andere.
Wohl weil so viel los ist auf der Kastanienallee, wir stehen eigentlich im Weg, sagt Martin, das mit den Touristen im Prenzlauer Berg habe mit dem Kirchentag angefangen. »Mit dem von 1989?«, frage ich. »Den habe ich auch besucht, aber nur weil Berlin mich lockte. West-Berlin. Und weil es für die Fahrt schulfrei gab. Wir haben in einem Gymnasium in Westend übernachtet, nicht weit vom Corbusierhaus. Vier Tage bin ich durch Berlin gelaufen. Und hatte am Ende keinen einzigen Gottesdienst besucht.«
»Nein«, sagt er, »ich meine den von 2010. Aber Touristen sind ja vorher schon gekommen. Und heute haben wir jedes Wochenende Kirchentag.«
»Sollen wir nicht lieber ›Treffen der Weltjugend‹ sagen? Im Mauerpark?«
Er lacht.
Nicht immer verstehe ich alles, was er sagt. Manchmal setzt seine rauchige Stimme aus, er hatte Probleme mit seinem Kehlkopf. Ich verstehe auch nicht immer, wovon er spricht, er spaziert und springt durch sein Wissen und ist in ihm unterwegs, wie er in der Stadt unterwegs ist. Er treibt sich herum, streift umher, streichelt Berlin. Er ist der wahre Flaneur, verglichen mit ihm bin ich ein Poser.
Wir stehen noch ein wenig auf dem durch den Umbau mit den Parktaschen für die Autos, da sind wir uns einig, verunstalteten Bürgersteig der Kastanienallee und hätten uns noch viel zu erzählen – geben uns dann aber gleich zweimal die Hand, bevor er zum Abschied den alten, in einer frühen Castorf-Inszenierung wieder aufgenommenen Kräuterlikör-Werbespruch zitiert: »Früher oder später trinkt ein jeder Wurzelpeter«.
Auf den letzten Metern nach Hause – die Blätter der Kastanien werfen theatralische Riesenschatten auf den Granit der von so vielen Sohlen glattpolierten Schweinebäuche – habe ich das Gefühl, Martin hätte die ganze halbe Stadt in sich aufgesaugt. Überall ein Körnchen, auf jedem Weg, bei jedem Schritt durch sein Schweifgebiet. Ich weiß, dass er schon vor der Wende herumgezogen ist, Annett Gröschner erzählt in Psychonautikon Prenzlauer Berg, dass er nicht nur bei Ekkehard Maaß ein- und ausgegangen sei, in dessen Wohnung in der Schönfließer Straße die legendären, durch Sascha Anderson stasi-überwachten Lesungen stattfanden. In den frühen 2000er Jahren, als ich am Arnimplatz neben der Kletterburg am Sandkasten saß, wohnte Ekkehard Maaß noch immer dort, hatte ebenfalls ein kleines Kind und setzte sich manchmal zu uns.
Am Tag darauf schreibt Martin mir per Facebook-Nachricht: »ja.schade david.3 min später und 50 m weiter war auf hof von k77 ne hoffest.band mit letzter kraft noch… so’n 90er berlin gefühl stellte sich ein… und ganz schlimm dann die meute vor der badeanstalt oderberger hingegen…. ansonsten ahoi.auf demnächst.m.«
2016
BRANDWÄNDE ERZÄHLEN BERLIN
Ich wache auf, öffne die Augen und sehe die Brandwand. Eine Mauer aus vielen – wie viele waren es, habe ich nicht sogar versucht, sie zu zählen? – ursprünglich roten, über die Jahrzehnte eingegrauten und anverwitterten Ziegelsteinen.
Ich sah sie jeden Morgen. Mein Bett stand gegenüber dem einzigen Fenster des einzigen Zimmers der Wohnung, ich hatte sehr viel Mauer vor mir. Manchmal wanderten Lichtpunkte über die Backsteinwand, das freute mich, später am Tag, wenn die Sonne schien, was im Winter nicht oft der Fall war, ein Schatten. Die Brandwand vor meinem Fenster war wie eine große leere Leinwand, eine Matrix, in der vielleicht, dachte ich mir, während ich sie vom Bett oder später vom Schreibtisch aus betrachtete, eine Botschaft steckte. Stecken musste. Standen nicht einige Steine ein wenig aus dem Verbund heraus? Bildeten sie nicht Buchstaben? Ameisen konnten diese Backsteinwand hinauflaufen. Ich nicht.
Brandmauern haben Berlin gerettet. Wahrscheinlich stand das Haus, in dem ich damals, in den frühen neunziger Jahren, wohnte, nur wegen seiner Brandmauern noch. In seiner Umgebung waren während des Krieges nicht wenige Bomben gefallen.
Nur der Brandwände wegen stehen überhaupt noch so viele Gebäude, die wir heute Altbauten nennen. Während der Bombardierungen waren viele von ihnen nicht einmal fünfzig Jahre alt und brandschutztechnisch auf der Höhe der Zeit. Hamburg ist verbrannt, Köln ist verbrannt, Nürnberg ist verbrannt, Würzburg ist verbrannt, Dresden sowieso und von vielen anderen deutschen Innenstädten blieb auch nicht viel übrig. Berlin aber blieb Berlin, weil Berlin eben – zu einem großen Teil zumindest – keine alte Stadt war. Von der Altstadt, die auch Berlin einmal hatte – sie befand sich um die Marien- und die Nikolaikirche herum und auf der Fischerinsel –, von der Altstadt, die brennen konnte, ist fast nichts mehr da.
Berlin blieb dank seiner strengen Bauvorschriften in großen Teilen erhalten – und weil die Stadt, so weit im Osten, lange nicht in Reichweite der alliierten Bomber lag; nicht in Reichweite der – wie hieß es so schön auf den heute fast überall entfernten Ost-Berliner Hinweistafeln aus DDR-Zeiten: »angloamerikanischen Bomberverbände« – lag. Westdeutsche Ziele lagen einfach näher.
Brandwände haben Berlin gerettet, denn um Berliner Mietskasernen zu knacken, brauchte es schwerste Bomben, Wohnblockknacker genannt, dann Sprengbomben auf Brandbomben. Die Bauweise mit Brandwänden war und ist aber auch verantwortlich für die oft mangelnde Belichtung vieler Berliner Wohnungen. Sie sorgte für Wohnhöhlen, wie die, in der ich untergekommen war, mit einem großen Zimmer, das von nur einem Fenster eher mangelhaft beleuchtet wurde. In der ich mich aber, Brandwand im Rücken, Brandwand vor dem Fenster, sehr sicher fühlte. Ich war in Berlin.
Gar nicht so selten zu sehen in großen Brandwandflächen: Ein oft recht weit oben liegendes, einsames kleines Fenster, das ein Bewohner der dahinterliegenden Wohnung in einem anarchischen Akt durch die Hauswand gebrochen hat, um sich so mehr Licht, Luft und Aussicht zu verschaffen. Nachts oft ein warmes, gelbes Lichtgeviert in dunkler Fläche.
Kann wie ein Gemälde aussehen.
Brandwände aber, das tut mir fast leid, verschwinden. Verschwinden, weil neu gebaut wird. Ich erinnere mich an das kubistische Brandwandensemble am Pariser Platz, dort, wo heute die Französische Botschaft steht: Sie bildeten einen Raum, der nur noch an zwei Seiten offen war: zum