Petra Bunte

Dieses viel zu laute Schweigen


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ich erfahren hatte, dass mein Bruder möglicherweise nur deshalb so zugerichtet worden war, weil er helfen wollte, konnte ich es noch weniger ertragen, so hilflos neben seinem Bett zu sitzen und einfach nichts tun zu können. In mir kochte die Wut hoch, und am liebsten hätte ich um mich geschlagen und irgendetwas zertrümmert. Dabei war ich eigentlich eher ein friedlicher Mensch. Aber die ganze Situation warf mich völlig aus der Bahn. Deshalb verabschiedete ich mich kurz darauf von Lukas und versprach ihm, später wiederzukommen. Ich musste dringend raus an die Luft, mich bewegen und diese überschüssige Energie in mir loswerden. Also marschierte ich los, ließ den Klinikparkplatz links liegen und folgte der Straße, die am ehesten ein bisschen Grün zwischen all dem Teer und Beton zu bieten hatte. Sie führte aus der Stadt raus Richtung Außenbezirke, und während der Verkehr sich immer mehr lichtete, wurde auch ich allmählich etwas ruhiger.

      Ich hatte keine Ahnung, wie weit ich gelaufen war oder wo ich mich überhaupt befand, als die ersten Regentropfen auf meine nackten Arme fielen. Überrascht blickte ich zum Himmel rauf, an dem sich in der Zwischenzeit dicke graue Wolken zusammengeballt hatten. Und wie aufs Stichwort fing es an zu donnern.

      Fluchend suchte ich nach einem schützenden Unterstand und entdeckte ein Stück weiter das Wartehäuschen einer S-Bahn-Haltestelle. Wie sich herausstellte, hatte ich Glück im Unglück und die Linie führte direkt zum Klinikum.

      Nichtsdestotrotz war ich ziemlich nass, als ich dort ankam, deshalb ging ich nicht zu Lukas rauf, sondern gleich zu meinem Auto. Alles in mir drängte zwar danach, noch einmal nach ihm zu sehen. Aber wenn ich keine Erkältung riskieren wollte, sollte ich jetzt lieber fahren und mir etwas Trockenes anziehen, bevor ich in den nächsten Tagen gar nicht mehr zu ihm durfte. Denn selbst einem Laien wie mir war klar, dass die kleinste Infektion meinen Bruder mit größter Wahrscheinlichkeit umbringen würde.

      Anna

      Als ich am späten Mittwochnachmittag Feierabend machte, regnete es in Strömen. Deprimiert beobachtete ich, wie die Tropfen an der Fensterscheibe der S-Bahn herunterliefen, und hing meinen Gedanken nach. Die Sache mit Lukas ließ mich einfach nicht los, von daher passte das Wetter perfekt zu meiner Stimmung. Wenigstens hatte ich heute Morgen in weiser Voraussicht einen Schirm eingepackt, sodass ich auf dem Weg zum Supermarkt und nach Hause nicht klatschnass wurde.

      An unserem Wohnblock angekommen, sah ich in der Parkreihe davor ein Auto mit fremdem Kennzeichen stehen. Das war an und für sich nichts Ungewöhnliches, denn die Studenten bei uns im Haus kamen oft von weiter weg. Merkwürdig war jedoch, dass das Licht daran brannte und eine Gestalt vollkommen reglos hinter dem Lenkrad kauerte. Beim Näherkommen erkannte ich, dass es Felix war. Er starrte durch die Windschutzscheibe raus in den Regen und schien in Gedanken meilenweit weg zu sein. Wenn ich mich nicht täuschte, sah er noch schlechter aus als am Abend zuvor, und prompt schlug mir das Herz bis zum Hals. Was, wenn etwas mit Lukas war? Wenn er …

      Nein!, unterbrach ich mich selbst. Es gab sicherlich eine ganz simple Erklärung dafür, warum er nicht ausstieg und nach oben ging. Vielleicht hatte er keinen Schirm dabei und wollte nicht nass werden. Außerdem konnte ich sein Gesicht durch die leicht beschlagene und vollgetropfte Scheibe gar nicht richtig erkennen und mir alles Mögliche einbilden.

      Entschlossen holte ich Luft und klopfte vorsichtig an die Seitenscheibe, um Felix nicht zu erschrecken. Aber natürlich tat ich es doch. Ruckartig drehte er den Kopf zu mir herum, schien einen Moment zu brauchen, bis er regis­triert hatte, wer ich war, und ließ dann das Fenster herunter.

      „Hey“, sagte ich lächelnd. „Willst du hier warten, bis der Regen aufhört, oder kann ich dir ein Stück von meinem Schirm anbieten?“

      Felix blickte wieder nach vorne, als hätte er gar nicht bemerkt, dass es überhaupt regnete. Dabei war sein ganzes Shirt voll mit nassen Flecken.

      „Alles okay bei dir?“, vergewisserte ich mich zögernd.

      Er zuckte mit den Schultern, und so hilflos und verloren, wie er dabei wirkte, hätte er auch gleich den Kopf schütteln können.

      „Felix? Bitte sag was! Ist mit Lukas alles in Ordnung?“

      Daraufhin stieß er ein bitteres Lachen aus. „Nein. Ganz bestimmt nicht.“

      „Aber er lebt?“, bohrte ich weiter.

      Für einen Moment passierte gar nichts, und ich befürchtete schon das Schlimmste, dann nickte er.

      Ich atmete erleichtert auf. So weit, so gut. Aber irgendetwas musste trotzdem geschehen sein.

      „Kommst du mit rein?“, versuchte ich es erneut. „Dann können wir in Ruhe reden. Hier ist es grad etwas ungemütlich.“

      Außerdem wollte ich sowieso mit ihm sprechen. Jedenfalls war das bis vorhin mein Plan gewesen. Doch jetzt war ich unsicher, wie viel ich ihm in seinem Zustand noch zumuten konnte.

      Felix sah mich an, ließ die Fensterscheibe wieder hochfahren, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg aus.

      Auf dem Weg die Treppe rauf bemerkte ich, dass sein Shirt auf dem Rücken ebenfalls nass war. Doch als ich ihn darauf ansprach, nuschelte er bloß etwas vor sich hin, das wie „verlaufen“ klang. Ich fragte nicht weiter nach, schlug ihm vor, sich erst mal umzuziehen, und bot ihm an, dass er danach gerne zu mir rüberkommen und später mit mir essen konnte.

      „Danke“, erwiderte er leise, und ich rechnete fest mit einem Aber, doch es kam nicht.

      Eine knappe halbe Stunde verging, und ich fragte mich gerade, ob Felix wirklich kommen würde, als es endlich klingelte. Er hatte sich nicht nur umgezogen, sondern auch geduscht, denn er roch frisch nach Shampoo oder Seife. Genauso wie Lukas am Samstagabend im Treppenhaus. Die Erinnerung daran war wie ein Schlag in die Magengrube, doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, hielt ihm einladend die Tür auf und sagte: „Komm rein! Essen dauert noch einen kleinen Moment. Willst du was trinken?“

      „Nein, danke.“ Er folgte mir in die Küche und beobachtete schweigend, wie ich meinen Auflauf in den Ofen schob. „Anna … Das mit der Einladung zum Essen ist wirklich nett von dir“, bemerkte er, nachdem ich mich wieder aufgerichtet hatte. „Aber … Ehrlich gesagt habe ich überhaupt keinen Appetit, und ich glaube, ich bin heute auch keine so gute Gesellschaft.“

      Da war es, das Aber. Ich sah ihn an und wartete, bis er mich ebenfalls anschaute. In seinen Augen tobte ein Sturm an Gefühlen, doch ich konnte unmöglich erkennen, was genau darin vor sich ging.

      „Was ist passiert?“, fragte ich leise.

      Felix musterte mich einen Augenblick lang stumm, ehe er niedergeschlagen antwortete: „Es war vielleicht doch nicht nur ein Raubüberfall.“

      „Was?! Aber was … Ich meine, wieso …“ In meinem Kopf überschlug sich plötzlich alles. Es konnte nicht sein, dass er schon von dem Vorfall am Bahnsteig gehört hatte. Ich wollte ihm doch gleich erst davon erzählen.

      „Die Polizei hat mich heute angerufen“, begann er und erklärte mir genau das, was ich ihm bisher verschwiegen hatte.

      Atemlos hörte ich ihm zu und überlegte nebenbei fieberhaft, wer diese Zeugin war, die den Vorfall an der Haltestelle gemeldet hatte. Die blonde Frau aus dem Drogeriemarkt? Oder eine von den beiden Alten? Auf jeden Fall jemand, der mutiger gewesen war als ich, denn nach den ganzen Grübeleien der Nacht hatte ich beschlossen, erst mit Felix zu reden und dann zur Polizei zu gehen, vielleicht sogar mit ihm zusammen. Aber jetzt war die Situation eine völlig andere.

      Ich schluckte schwer. „Felix, ich …“, setzte ich an, ihm endlich zu sagen, was ich wusste. Doch er war zu sehr in seinen eigenen Gedanken gefangen und redete unbeirrt dazwischen.

      „Kannst du dir vorstellen, dass die anderen Leute wirklich nur zugeguckt und nichts getan haben? Sie haben diese junge Frau einfach ihrem Schicksal überlassen und Luka genauso. Ich würde ja sagen, er hat Glück gehabt, dass die Bahn in dem Moment kam, aber … Was, wenn der Überfall wirklich damit zu tun hat und sich der Racheakt dieser Truppe bloß auf später verschoben hat?“

      Jeder einzelne Satz von ihm fühlte sich an wie eine Ohrfeige,