Petra Bunte

Dieses viel zu laute Schweigen


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      Felix schnaubte. „Ja. Das würde mir alleine bestimmt genauso gehen. Und vielleicht war es zu leichtsinnig von Luka, so vorzupreschen. Aber da war niemand alleine! Und zusammen hätten sie es ja wohl mit vier Halbstarken aufnehmen können oder die Polizei rufen oder was weiß ich was.“

      Ich schrumpfte immer mehr in mich zusammen und wollte wie schon bei Nele ins Feld werfen, dass die Polizei ohnehin zu spät da gewesen wäre. Aber ich brachte keinen Ton heraus. In meiner Kehle sammelte sich ein riesengroßer Kloß an Tränen, und wenn ich es selbst nicht tat, würde der mich jeden Moment verraten. Und mit seiner nächsten Bemerkung verpasste Felix mir den Gnadenstoß.

      „Wenn bloß einer rechtzeitig den Mund aufgemacht hätte, hätte die Polizei jetzt wenigstens die Aufnahmen von der Überwachungskamera. Aber so ist es zu spät.“

      Was?! Ich riss erschrocken den Kopf hoch, doch er merkte es nicht einmal, weil er völlig in Gedanken versunken auf die Tischplatte starrte. Eine eisige Hand schnappte sich mein Herz und drohte es zu zerreißen.

      „Warum ist es zu spät?“, fragte ich mit belegter Stimme.

      „Weil die Aufzeichnungen nur vierundzwanzig Stunden gespeichert und dann überschrieben werden“, antwortete er niedergeschlagen.

      Nein! Das war jetzt nicht wahr, oder?

      Vierundzwanzig Stunden. Sonntagabend. Wenn mir bis dahin doch bloß aufgefallen wäre, dass Lukas nicht nach Hause gekommen war. Oder wenn ich meinem Bauchgefühl gefolgt wäre, als ich erkannt hatte, dass die Pöbeltruppe mit ihm zusammen am Berliner Platz ausgestiegen war.

      „Ich … Entschuldige mich kurz“, presste ich mit letzter Kraft heraus, verließ fluchtartig die Küche und stürzte ins Bad. Mir war plötzlich furchtbar übel, doch letztendlich waren es nur Tränen, die in Sturzbächen aus mir herausschossen. Wie gerne hätte ich meine Schuldgefühle einfach ausgekotzt, aber so leicht wollte es mir mein Gewissen nicht machen.

      Ich hatte schon eine ganze Weile zusammengekauert auf dem Klodeckel gesessen, als es leise an der Tür klopfte.

      „Anna?“, hörte ich Felix gedämpft durch das Holz. „Ist alles okay?“

      „Ja“, rief ich mit zittriger Stimme. „Bin gleich wieder da.“

      „Gut. Ich habe den Ofen schon mal abgestellt“, sagte er.

      Unwillkürlich musste ich lächeln. Und weinen. Wie sehr hatte ich mir gewünscht, mit Lukas näher in Kontakt zu kommen, ihn zu besuchen oder zu mir einzuladen, gemeinsam zu essen, zu reden, zu lachen. Stattdessen war es jetzt sein Bruder, der hier war und sich wie selbstverständlich in meiner Küche zu schaffen machte. Nur das Lachen fehlte. Und das mit dem Reden war so eine Sache, an der ich dringend arbeiten musste.

      Ich atmete tief durch, putzte mir die Nase und klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht, um meine verheulten Augen wenigstens einigermaßen zu kaschieren. Es war allerdings vergeblich, also gab ich es auf, band mir die Haare neu zusammen und ging zurück in die Küche.

      Felix saß am Küchentisch und starrte gedankenverloren vor sich hin. Als er mich kommen hörte, hob er den Kopf und musterte mich einen Moment schweigend.

      „Sorry“, murmelte ich verlegen und wandte mich geschäftig dem Schrank zu, um ein paar Teller und Gabeln herauszuholen. Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken und fragte mich, was er gerade dachte. Doch ich musste gar nicht weiter überlegen, denn die Antwort darauf gab er mir selbst.

      „Anna, ich will dir ja nicht zu nahetreten“, begann er zögernd. „Aber … Ich fürchte, dass das, was du für Luka empfindest, ziemlich einseitig ist. Er ist einfach so ein Typ …“ Er stockte. „Keine Ahnung, wie ich das am besten ausdrücken soll.“

      Ich drehte mich zu ihm um und lächelte traurig. „Meinst du, ich weiß nicht, dass jemand wie er nicht zu haben ist? Mir ist schon klar, dass Männer wie Lukas entweder vergeben oder bloß auf ein Abenteuer aus sind. Aber darum geht es nicht. Es ist …“

      Sag’s ihm!, wisperte eine Stimme in mir.

      Felix hielt meinen Blick fest und wartete schweigend ab, dass ich weiterredete. Verstohlen wischte ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel.

      „Es ist nur im Moment alles etwas viel auf einmal“, quetschte ich heraus, wandte mich von ihm ab und hasste mich selbst für meine Feigheit.

      „Ja, das ist es“, hörte ich ihn leise hinter mir sagen.

      Verzweifelt biss ich mir auf die Unterlippe und wünschte mir plötzlich, dass er doch lieber wieder gehen würde. Ich erstickte beinah an meinem Schweigen, aber ich bekam einfach nicht heraus, was ich ihm eigentlich sagen wollte. Sagen sollte. Sagen musste.

      Geistesabwesend griff ich nach der heißen Auflaufform und merkte in allerletzter Sekunde, dass ich die Topflappen vergessen hatte. Das wäre schmerzhaft geworden.

      Ich zwang mich zur Konzentration, atmete tief durch und stellte das Essen auf den Tisch. Felix beobachtete mich still dabei und lächelte verlegen, als sein Magen im selben Moment ein eindeutiges Knurren von sich gab. Der beste Beweis dafür, dass Appetit und Hunger zweierlei Dinge waren. Auch mir war nicht nach Essen zumute, aber dem Körper war das leider herzlich egal.

      Schweigend füllte ich uns auf, stellte zwei Gläser und eine Flasche Wasser auf den Tisch und setzte mich. Felix bedankte sich leise, darüber hinaus waren uns die Worte irgendwie ausgegangen.

      Als ich die Stille nicht länger aushielt, versuchte ich es mit Small Talk und fragte ihn: „Was ist mit dir? Hast du eine Freundin?“

      „Nein.“ Sein Gesicht verdüsterte sich und war Antwort genug. Es war, als wäre eine Klappe heruntergefallen, auf der stand: heute keine Sprechstunde. Ich war mir ziemlich sicher, dass er im Gegensatz zu seinem Bruder sehr wohl der Typ für eine feste Beziehung war. Aber wie es aussah, hatte ihm jemand das Herz gebrochen. Da war ich ja schön ins Fettnäpfchen getreten. Vielleicht sollte ich auch lieber den Mund halten.

      Eine Weile aßen wir schweigend unseren Auflauf, bis Felix nur noch in seinen restlichen Nudeln herumstocherte, schließlich die Gabel zur Seite legte und sagte: „Tut mir leid. Ich schaffe nicht mehr.“

      „Ist schon okay.“

      Wir sahen uns an, und in meinem Bauch fing es an zu rumoren. Ich hätte allerdings nicht sagen können, ob es an meinen Schuldgefühlen, an seiner Ähnlichkeit zu Lukas oder diesem herzzerreißend melancholischen Blick lag. Vermutlich alles zusammen.

      „Also dann.“ Felix räusperte sich und rückte seinen Stuhl nach hinten. „Danke für das Essen. Ich fahre jetzt noch mal in die Klinik. Zu Luka, und weil ich den Ärzten ein paar Unterlagen bringen muss.“

      Mit einem stummen Nicken beobachtete ich, wie er aufstand, und folgte ihm in den Flur. Ich wusste nicht, was für Unterlagen er meinte, doch es musste etwas Bedeutsames sein, denn ich spürte, wie sehr er sich dagegen sträubte.

      An der Wohnungstür blieb Felix stehen, schien über etwas nachzudenken und drehte sich noch einmal zu mir um. „Der Überfall …“, sagte er zögernd. „Ich würde mir gerne angucken, wo das war. Kannst du mir vielleicht zeigen, wie ich da hinkomme?“

      „Ja … klar“, antwortete ich, schließlich hatte ich mir die Karte von dem Tatort im Internet so oft angesehen, dass sie sich schon auf meiner Linse festgebrannt hatte. „Das ist eigentlich ganz leicht zu finden“, fügte ich hinzu. „Mit der Bahn jedenfalls. Oder willst du lieber mit dem Auto hin?“

      Er schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn es mit der Bahn einfacher ist, mache ich das.“

      „Okay. Also, dann nimmst du …“

      „Anna?“, unterbrach er mich.

      „Ja?“

      Felix schaute mich an, und ich sah, dass in seinen Augen ein wahrer Kampf tobte. Er wollte anscheinend etwas loswerden, rang jedoch mit sich, ob er es wirklich wagen konnte, mich darauf anzusprechen. Es war bloß ein kurzer Augenblick, aber mir kam es vor wie eine Ewigkeit, denn je länger sein