Kübler stöhnte recht theatralisch und fuhr los.
„Kennst du die rote Kapelle bei Friesenhagen?“, fragte er.
„Nein. Muss ich die kennen?“, entgegnete sie.
„Ja, als heimatverbundener Mensch solltest du die kennen“, meinte er.
„Ich bin Halbitalienerin. Da muss ich nur halb so viele Orte kennen wie du – oder warst du schon mal in der Via Santa Maria del Pianto?“
Sie bemerkte, wie er fragen wollte, was das sei.
„Kübler, was ist da in Friesenhagen los?“, wiegelte sie jedoch ab, bevor er den Mund aufmachen konnte.
„Unweit der Kapelle wurde heute Morgen von mehreren Personen ein Feuer gemeldet. Irgendwer hat einen Polder mit Holz angezündet. Die Feuerwehr ist ausgerückt, um zu löschen, und hat vor Ort einen oder eine Tote gefunden … genau kann man das wohl ohne einen Gerichtsmediziner nicht mehr feststellen“, berichtete er.
„So stark verkokelt?“, hakte sie nach und nippte an ihrem Kaffee, der gerade wirklich äußerst guttat. Es war verdammt spät geworden die letzte Nacht.
Bis Friesenhagen fuhren sie schweigend. Nina schlürfte ihren Kaffee und las dabei auf ihrem Mobiltelefon. Die Zwillinge, Chiara und Matteo, hatten ihr geschrieben. Natürlich nicht sie selbst. Die beiden gingen ja erst in die Kita und konnten weder schreiben noch besaßen sie ein Handy. Nein, Oma Inge, bei denen die beiden letzte Nacht geschlafen hatten, hatte das erledigt. Sogar mit einigen Fotos, die die beiden am Frühstückstisch mit Opa Hans Peter zeigten.
„Da oben ist die Kapelle“, meinte Kübler, als sie von Engelshäuschen kommend kurz vor Friesenhagen aus dem Wald kamen. Nina entdeckte die kleine rote Kirche auf dem Hügel hinter dem Dorf sofort. Sie war nicht zu übersehen, obwohl es bis dorthin vermutlich noch zwei bis drei Kilometer Luftlinie waren. Das rot angemalte Gebäude, mit den Bäumen und den Löschfahrzeugen der Feuerwehr daneben, hob sich vom ansonsten strahlend blauen Himmel ab.
„Warum muss man das Kapellchen eigentlich kennen? Von solchen Kapellen gibt es doch bestimmt Hunderte oder gar Tausende in ganz Deutschland?“, fragte sie und reckte sich nach hinten, um den leeren Kaffeebecher hinter den Fahrersitz zu stellen.
„Wegen der Vorgeschichte“, antwortete Kübler und verzog missbilligend das Gesicht.
„Aha“, meinte sie nur, da sie immer noch nicht verstand, was er ihr damit sagen wollte.
„Da, wo heute die Kapelle steht, war früher eine Richtstätte. Im siebzehnten Jahrhundert wurden dort verurteilte Hexen verbrannt“, legte Kübler nach.
Nina blickte ihn an.
„Nicht dein Ernst, oder? Hexenverbrennung? Hier bei uns?“
„Doch, klar. Hier war es sogar besonders schlimm. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, wurden da, wo heute die Kapelle steht, an die zweihundert angebliche Hexen hingerichtet“, wusste er.
„Und du meinst, der oder die Tote da oben …“, Nina deutete den Hügel hinauf. Sie fuhren nun durch den Ort. Von hier aus konnte man die Kapelle wegen der Häuser gerade nicht sehen.
„Ich mein gar nichts … Erst mal schauen, was da genau los ist“, winkte Kübler ab.
Nina musste zugeben, dass sie nun doch irgendwie neugierig auf diesen Fall war. Dennoch war ihr mulmig zumute, und auch diese seltsame nicht zu beschreibende Nervosität war nun wieder da. Als sie mit gerade mal zwanzig zu ihrem ersten Tatort fuhr, hatte sie diese Unruhe zum ersten Mal gespürt. Damals hatte sie noch geglaubt, es würde sich irgendwann legen – dass der Tod eines Menschen irgendwann zur Normalität werden könnte. Heute wusste sie, dass dies niemals so sein würde. Der gewaltsame Tod eines Menschen war nicht normal und könnte es, zumindest für sie, niemals werden. Ja, sie war Profi. Ein alter Hase. Doch selbst Gesichter aus Fällen, die schon lange zurücklagen, kamen sie gelegentlich in ihren Träumen besuchen. Das Einzige, was sie als Polizistin für die Verstorbenen noch tun konnte, war, deren Mörder zu finden. Darin waren sie und ihr Team gut. Ihre Aufklärungsrate überdurchschnittlich.
Auf der Bergkuppe angekommen, ging es nach links in einen geteerten Forstweg. Nina fiel ein Schild an der Abzweigung auf. Bis Wildenburg, dem kleinen Ort mit der Burg, die ihm den Namen gab, war es nur noch ein Kilometer. Dort war sie schon seit Jahren nicht mehr gewesen. Das Wildenburger Land war ein Zipfel des Landkreises, in dem sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten. Kleine Orte, einzelne Höfe, eine Burg, das Wasserschloss Crottorf. Ein Paradies für Wanderer und Menschen, die bergige Natur liebten.
Die verkohlten Überreste des Holzpolders, auf dem der verbrannte Körper lag, strahlten immer noch Restwärme aus, als Nina den Platz mit der mächtigen Linde vor der kleinen Kapelle betrat.
Gerichtsmediziner Doktor Sebastian Wagner beugte sich gerade über die Überreste.
„Moin, Sebastian“, begrüßte sie ihn freundlich und fragte sich, warum der Pathologe eigentlich fast immer vor ihr an den Tatorten war. Hatte der einen siebten Sinn oder waren sie und Kübler einfach immer nur zu langsam?
„Guten Morgen, liebe Nina … guten Morgen, Herr Kübler“, grüßte der Arzt froh gelaunt mit den Worten zurück, die Nina sich gerade verkniffen hatte. Heute war nämlich gar kein guter Morgen. Vor ihr lag eine Leiche, und ihr Kopf fühlte sich immer noch an, als wäre sie gegen eine Wand gerannt. An Tagen wie heute reichte ein einfaches Morgen oder Moin.
„Ohne dass ich drängeln möchte, Sebastian, was können Sie denn schon sagen?“, erkundigte Nina sich vorsichtig.
„Ich kann mit Sicherheit sagen, dass der Mann bereits tot war, als man ihn angezündet hat“, antwortete Wagner.
„Es ist also ein Mann?“, schlussfolgerte Nina.
„Ja, ich denke, das ist ziemlich eindeutig. Der Körper ist bei Weitem nicht so stark verbrannt, wie es auf den ersten Blick scheint“, erklärte der Arzt.
„Was ist das denn da auf seiner Brust?“, wollte Kübler wissen und deutete auf die Stelle. Nina wusste sofort, was das war, glaubte aber ihren Augen nicht zu trauen.
„Das ist sein Kopf. Er wurde enthauptet, bevor man ihn verbrannt hat – daher auch die Annahme, dass er tot war, bevor man ihn anzündete“, bestätigte Wagner recht sarkastisch, was sie bereits vermutete.
„Dann würde ich mal sagen, dass es nichts mit dem Ort und diesem alten Hexenglauben zu tun hat“, schlussfolgerte Thomas wie immer ziemlich voreilig.
„Thomas, wir sind noch keine Minute hier und du schließt irgendetwas aus. Meinst du nicht, das wäre ein wenig voreilig?“, rügte sie ihn deshalb.
„Nee, mein ich nicht. Aber jeder weiß doch, dass Hexen immer an einem Stück und lebendig verbrannt wurden“, erwiderte er.
„Und das weiß jeder woher?“, wurde sie nun schon etwas grantig. Sie hasste diese Art von Diskussionen mit ihm. Kübler war belesen und bestimmt nicht dumm. Dennoch erinnerte er sie gelegentlich an dieses Schweinchen Schlau aus den Cartoons.
„Das weiß man eben!“, ließ er nicht locker.
„Seltsam, einer der Feuerwehrleute hier aus dem Ort hat mir eben berichtet, dass bei den damaligen Hexenverbrennungen an dieser Stelle die Delinquenten zuerst enthauptet wurden, bevor man sie verbrannte“, mischte sich nun Doktor Wagner ein.
„Na, dann hat der eben keine Ahnung“, beharrte Kübler.
„Soll angeblich so in den Gerichtsakten stehen, die gibt es als Buch veröffentlicht“, legte Wagner noch einen drauf.
Es war dem Mediziner anzusehen, dass es ihm einen Heidenspaß machte, Kübler zu belehren. Ein Spaß, der Nina in Anbetracht des verkohlten Leichnams doch sehr makaber und nicht angebracht erschien.
„Ich denke, wir sollten uns erst einmal das nähere Umfeld ansehen. Vielleicht finden wir ja noch Spuren, die nicht vom Löschwasser hinfortgespült oder von den Feuerwehrleuten zertrampelt wurden. Besser, du rufst den