Gladenberg. Das ist die Mutter von Fabrice“, gab sie Anweisung und rannte dann zurück zu der Kapelle. Sie musste jetzt wissen, was in dem Rucksack war und von wem er stammte.
Die Dusche hatte Sarika gutgetan. Wobei es natürlich auch an dem Kaffee und der Kopfschmerztablette liegen konnte, die sie genommen hatte. Die Sache mit Fabrice lag ihr schwer im Magen, und ihr Entschluss stand fest. Sie würde jetzt zu ihm fahren und ihm das Passende sagen. Die Adminrechte für die Facebook- und Instagram-Pages der Band hatte sie ihm, direkt nachdem sie das Video angeschaut hatte, entzogen. Der Link zum Video selbst war auf der Seite entfernt. Dennoch war es immer noch im Netz über die private Seite von Fabrice zu sehen. Da er nicht an sein Telefon ging und die Gladenbergs keinen Festnetzanschluss besaßen, musste sie also wohl oder übel zu ihm hinfahren und ihn auffordern, den Mist unverzüglich zu löschen. Als sie in die Küche kam, um Klaus zu sagen, dass sie kurz weg sei, war der nicht mehr da. Ein Blick aus dem Fenster in die Einfahrt brachte Klarheit, da der orangene VW Bulli ihres Vaters gerade aus der Einfahrt rollte. Vermutlich war er los, um die Zwillinge abzuholen, die bei Ninas Mutter übernachtet hatten.
Sie schnappte sich also noch eine Banane als Frühstück von der Anrichte und verließ dann ebenfalls das Haus. Keine Minute später bog sie mit ihrem bereits ziemlich betagten Mercedes SLK auf die Steinerother Straße in Richtung Betzdorf. Als sie an der roten Ampel in Höhe der Post hielt, kam ihr der Gedanke, dass sie vermutlich ja noch gar nicht hätte selbst fahren dürfen. Die letzte Wodka Cola hatte sie gegen zwei Uhr morgens getrunken. Obwohl sie sich nicht mehr betrunken fühlte, war sie dennoch fast sicher, dass, wenn die Polizei sie anhielt und ins Messröhrchen blasen ließ, es eng werden könnte für ihren Führerschein. Einen Moment überlegte sie daher umzudrehen. Aber nein, sie musste das mit Fabrice jetzt ein für alle Mal klären. Warum sollten die Bullen sie auch anhalten, wenn sie ordentlich fuhr? Per Knopfdruck öffnete sie das Verdeck. Sicher war sicher, so konnte es im Wagen unmöglich nach Alkohol riechen, sollte sie doch noch gestoppt werden.
Bis Harbach, so hieß der Ort, in dem die Gladenbergs lebten, brauchte sie keine zehn Minuten. Als sie in die Einfahrt zu dem alten Fachwerkhaus bog, war sie im ersten Moment ein wenig irritiert, da dort bereits ein roter 911er Porsche parkte, den sie nur zu gut kannte und den sie hier auf gar keinen Fall vermutet hätte. Was machte ein Dienstwagen der Kriminalpolizei vor dem Haus der Gladenbergs? Waren Kübler und Nina vielleicht bei Fabrice? Aber weshalb? Klaus hatte ihr vorhin erzählt, die beiden hätten zu einem Todesfall nach Friesenhagen gemusst. Ihr Restalkohol fiel ihr wieder ein. Nina würde ihr vermutlich nicht den Kopf abreißen. Bei Kübler war sie sich da allerdings nicht so sicher. Der Typ war irgendwie ein Spießer und ging bestimmt zum Lachen in den Keller. Nein, es würde wohl das Beste sein, wenn sie hier schnellstens wieder die Biege machte. Sie legte den Rückwärtsgang ein und schoss dann mit durchdrehenden Rädern zurück auf die Straße. Gerade als sie am Ortsausgang das Ortsschild passierte, klingelte ihr Telefon. Der Name des Anrufers wurde auf der Anzeige neben dem Tacho angezeigt. Sie hätte es sich denken können, dass Nina sie gerade gesehen hatte. Sie nahm das Gespräch also an und meldete sich lediglich mit einem: „Ja hallo?“
„Sarika, Liebes … Würdest du bitte wenden und zurückkommen?“, wies ihre Stiefmutter sie an.
„Ja, okay“, willigte sie ein und wendete den Wagen bei der nächsten Gelegenheit in einem Forstweg.
Frau Gladenberg war sichtlich besorgt um ihren Jungen. Wozu sie natürlich allen Grund hatte. Nina und Heike hatten auf der Fahrt nach Harbach besprochen, den Eltern gegenüber erst einmal noch nichts von dem verbrannten Leichnam zu sagen. Vorerst war der Junge ja nur verschwunden. Der Rucksack in der Kapelle gehörte, dieser Verdacht hatte sich bestätigt, Fabrice Gladenberg. Dieser Umstand bedeute allerdings noch lange nicht, dass er auch das Mordopfer war. Dass es sich um einen Mord handelte, war für Nina ebenfalls eine unumstößliche Tatsache. Niemand enthauptete sich selbst und legte sich auf einen Scheiterhaufen. Nein, für so etwas gehörten immer noch mehrere dazu. Das Zimmer von Fabrice, bei dem es sich eindeutig um die Höhle eines pubertierenden Musikfans handelte, lag zur Straße. Heike war es, die den kleinen blauen Wagen in der Einfahrt zuerst bemerkte.
„Sag mal, Nina, ist das nicht deine Stieftochter?“, fragte sie verwundert.
Nina trat ebenfalls ans Fenster und blickte in die von wilden Rosen eingefasste Einfahrt, in der hinter Küblers Dienstporsche ein dunkelblaues Mercedes Cabriolet hielt. Da das Verdeck geöffnet war, konnte man auch wunderbar die Fahrerin erkennen. Eindeutig Sarika.
„Hmmm“, antwortete sie lediglich und beobachtete, wie der kleine Wagen wieder zurücksetzte, ziemlich hastig auf die Straße schlidderte und mit quietschenden Reifen davonschoss.
„Die hat es aber sehr eilig“, fand Heike.
Nina antwortete nicht, sondern wählte stattdessen Sarikas Nummer. Sie hatte Glück. Das Mädchen nahm das Gespräch bereits nach dreimal Läuten an.
„Sie kommt zurück“, antwortete Nina nach dem Gespräch, ging dann an Frau Gladenberg vorbei in den Flur, rannte die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus. Bereits wenige Sekunden später knirschten zum zweiten Mal für diesen Tag die Räder von Sarikas kleinem Benz in der Einfahrt.
Nina trat an den Wagen und beugte sich über die Front- und Seitenscheibe.
„Moin, Sari“, begrüßte sie ihre Stieftochter, zu der sie tatsächlich, und anders als es in den Grimmschen Märchen erzählt wurde, ein sehr gutes Verhältnis hatte.
„Moin, Nina“, erwiderte diese und sah sie mit geröteten Augen über den Rand ihrer Sonnenbrille an. Scheinbar hatten sie beide heute Morgen das gleiche Problem.
„Du wolltest zu Fabrice?“, mutmaßte Nina einfach mal.
„Klar … Was soll ich hier sonst wollen?“, schnaufte Sarika verächtlich.
„Immer noch Stress mit ihm?“, erkundigte Nina sich weiter und traf, wie es schien, genau ins Schwarze.
„Der Arsch hat so ein blödes Video hochgeladen und auf der Witchwar-Seite bei Facebook und Insta geteilt“, zischte sie und hieb dann wütend auf das Lenkrad des Wägelchens.
Nina dachte einen Moment nach, was sie sagen konnte und was nicht. Sarika war definitiv eine Zeugin, die sie früher oder später befragen mussten. Dummerweise war sie aber auch ihre Stieftochter. Nina ging um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür, hob Sarikas Handtasche vom Sitz, ließ sich nieder und zog die Türe zu.
„Was gibt das jetzt? Soll ich dich wohin fahren?“, fragte Sarika irritiert.
„Nein, wir müssen reden. Mach das Dach und die Fenster zu“, wies Nina sie an.
„Was ist denn los?“, wollte Sarika wissen, schloss aber wie gewünscht das Dach und die Seitenscheiben.
Nina wartete geduldig. Es musste nicht jeder mitbekommen, was sie dem Mädchen zu sagen hatte.
„Du bleibst jetzt bitte ganz ruhig und hörst mir zu. Es kann sein, dass Fabrice etwas zugestoßen ist. Heute Morgen wurde oberhalb von Friesenhagen die Leiche eines Mannes gefunden. Es gibt Hinweise, die darauf schließen lassen, dass es sich dabei um Fabrice handeln könnte“, kam sie direkt zur Sache und beobachtete dabei genau Sarikas Reaktion. Sie fiel aus, wie Nina es erwartet hatte. Ihrer Stieftochter entglitten sämtliche Gesichtszüge. Ihre Hände verkrampften sich zitternd um das Lenkrad.
„What the Fuck …“, stammelte sie. Nina griff ihren Arm.
„Sarika, wir wissen noch nicht, was genau passiert ist und ob es sich tatsächlich um den Sänger eurer Band handelt. Es ist jetzt ganz wichtig, dass du mir alles erzählst, was du weißt und was gestern nach dem Konzert vorgefallen ist“, schilderte Nina ihr sehr eindringlich die derzeitige Lage.
Sarika nickte.
Oberkommissarin