Micha Krämer

666 Der Tod des Hexers


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      „Wir bräuchten noch für einen etwaigen DNA-Abgleich die Zahnbürste Ihres Sohnes.“

      Frau Gladenberg sah Heike irritiert an.

      „Warum, weshalb? Das verstehe ich jetzt nicht. So etwas brauchen Sie doch nur, wenn …“ Sie schluckte. Heike sah zu Nina. Vermutlich einen Moment zu lange, sodass Frau Gladenberg sichtlich ein Verdacht kam.

      „Was haben Sie gefunden? Was verheimlichen Sie mir?“ Ihre Stimme schien fast zu ersticken.

      „Beruhigen Sie sich bitte, Frau Gladenberg. Noch ist nichts sicher“, ergriff Nina das Wort.

      „Was haben Sie gefunden? Ist er …?“

      „Wir wissen es nicht, Frau Gladenberg. Wir haben heute Morgen zwar einen Leichnam in der Gegend gefunden, in der sich Ihr Sohn gestern aufgehalten hat, glauben aber derzeit nicht, dass es sich um ihn handelt“, log Nina.

      Heike bemerkte, wie die Mutter des Jungen zu zittern begann und nach der Türklinke griff.

      „Ihr Sohn hat das Video gegen sieben Uhr heute Morgen gepostet. Der Tote wurde aber bereits über eine Stunde vorher gefunden. Rein rechnerisch passt das nicht“, erklärte Nina weiter, obwohl dies nicht der Wahrheit entsprach. Tatsächlich war das Video um fünf Uhr zweiundfünfzig hochgeladen worden. Vermutlich von Fabrices Mobiltelefon. Doktor Wagner hatte vorhin den Todeszeitpunkt auf fünf Uhr morgens plus/minus eine Stunde geschätzt. Das Feuer war um exakt sechs Uhr zweiundvierzig gemeldet worden.

      Frau Gladenberg schien den letzten Satz von Ninas Notlüge jedoch schon nicht mehr wahrzunehmen. Ein erstickter Schrei, dann rutschte sie am Türstock hinunter zu Boden. Nina war sofort bei ihr, während Heike die Nummer des Notarztes wählte. Jetzt war genau das eingetreten, was sie unbedingt hatten vermeiden wollen.

      Sarika stoppte das Cabriolet direkt an der Zufahrt zum Tüschebachsweiher, sprang hektisch aus dem Wagen und übergab sich über die Leitplanke. Die Bilder, die Gedanken an das, was Nina ihr eben im Vertrauen gesagt hatte, fraßen sich gerade in ihre Eingeweide. Fabrice war vermutlich tot. Verbrannt auf einem Scheiterhaufen an dieser Kapelle oberhalb von Friesenhagen. Die Polizei ging derzeit von einem Gewaltverbrechen aus. Die Möglichkeit, dass er sich selbst angezündet haben könnte, schloss Nina aus. Warum dies so war, wusste Sarika nicht, aber Nina würde vermutlich ihre Gründe haben. Klar, die durfte auch Sarika nicht alles erzählen, was die Polizei ermittelte. Irgendwie war sie ja vermutlich in das Ganze auch involviert. Immerhin hatte Fabrice in seinem Video bei Facebook ihren und die Namen der anderen Bandmitglieder genannt. Verdammt … wer tat so etwas Abscheuliches? Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf. Vielleicht schlief sie ja noch und alles war nur ein blöder Traum. Wobei … nein, so schlecht und mies konnte es ihr noch nicht mal in einem Traum gehen.

      Nach dem Auftritt waren sie gestern alle zu Selina gefahren. Die Freundin und Bassistin der Band lebte dort in einer zu einer Wohnung umgebauten ehemaligen Stallung auf dem Hof ihrer Eltern. Insgesamt waren sie so um die zwanzig Leute gewesen. Die meisten davon hatte Sarika gekannt. Schulkameraden aus ihrer Abistufe. Einige mit Anhang, andere ohne. Es war, wie sie es erwartet hatte, zum Streit in der Band gekommen. Fabrice ging ihr schon länger auf den Keks. Dass sein Gesang für die Art von Musik, die sie machen wollten, nicht optimal war, war da noch das kleinste Problem. Nein, was Sarika am meisten an dem Typ nervte, war sein ganzes Getue. Fabrice nahm die Themen, die er in die Songtexte hineinschrieb, viel zu ernst. Der glaubte diesen ganzen Satansmüll in seinen Texten tatsächlich. Sie selbst war nicht gläubig. Weder glaubte sie an Gott noch an Satan oder sonst welche Götter. Religion war nicht ihr Ding. Dies war auch der Grund, warum es sie am Anfang nicht gestört hatte, welche Themen die Songs beinhalteten, zu denen sie die Musik geschrieben hatte. Sämtliche Gitarrenriffs und Melodien stammten aus Sarikas Feder. Okay, auch sie hatte sich von den Großen der Musikbranche inspirieren lassen, weshalb einige Passagen der Stücke schon einmal ähnlich klangen wie die Werke bekannter Metal Bands. Es war aber auch unmöglich, das Rad noch einmal neu zu erfinden. Alles war schon irgendwann zumindest ähnlich einmal dagewesen.

      Fabrice war eine seltsame Type. Ein Paradiesvogel. Vermutlich war dies auch der Grund, warum es niemand lange mit ihm aushielt. Er hatte die seltene Gabe besessen, Leute einzulullen. Als sie ihn im letzten Jahr in der Oberstufe des beruflichen Gymnasiums kennenlernte, war er ihr sofort aufgefallen und auch zuerst sympathisch gewesen. Mit diesen 0815-Typen, die ihr Fähnchen nach dem Wind drehten, hatte sie noch nie etwas anfangen können. Menschen, die aus der Reihe fielen, zogen sie immer schon irgendwie an. Er hatte Sarika gleich am ersten Schultag angegraben. Ihr Avancen gemacht. Allerdings nicht nur ihr. Fabrice baggerte alles an, was nicht schnell genug auf den Bäumen war. Wie Sarika mittlerweile wusste, war es ihm in den meisten Fällen dabei auch ziemlich egal, ob es sich bei den Objekten seiner Begierden um Männlein, Weiblein oder beides gleichzeitig handelte. Seine Performance gestern bei dem Auftritt hatte bei ihr das Fass zum Überlaufen gebracht. Er war einfach nur grottenschlecht gewesen und hatte es noch nicht einmal selbst eingesehen. Der Typ war von sich und dem, was er tat, dermaßen überzeugt, dass es ihr fast hochgekommen wäre. Er war sich vorgekommen wie der King und hatte ihr und den Mädels eine ganz spezielle Aftershowparty vorgeschlagen, die sie bestimmt niemals vergessen würden. Nachdem er ihr erklärt hatte, wie er dies meinte, hatte er sich dann eine gefangen. Zusammen abhängen, feiern und trinken war das eine. Sex im Rudel das andere und überhaupt nicht ihr Ding.

      Sarika ließ sich auf die Leitplanke sinken und betrachtete die beinahe spiegelglatte Oberfläche des Weihers. Die einzigen Bewegungen gingen von einer einsamen bunt gefiederten Ente aus, die immer wieder mit dem Kopf untertauchte. Was die wohl suchte? Sarika seufzte und rieb sich die Schläfen. Nina wollte von ihr bis heute Abend die Namen aller Partygäste haben. Puh, wo sollte sie die denn alle hernehmen? Die meisten hatte sie ja noch nicht einmal mit Namen gekannt. Vielleicht wusste Leon noch, wer alles auf der Party gewesen war. Immerhin war der im Gegensatz zu ihr vollkommen nüchtern gewesen. Ein seltsamer Freak. So still und in sich gekehrt. Wirklich eine Schönheit war er auch nicht. So ein typisches Opfer, wie es sie in jeder Klassenstufe gab. Obwohl es schon nett gewesen war, dass er sie nach Hause gebracht hatte. Ob der sich zum Abschied von ihr mehr als einen Händedruck erwartet hatte? Wenn, dann hatte er es sich nicht anmerken lassen. Wann, um wie viel Uhr, er sie abgesetzt hatte, wusste sie auch nicht mehr. Sie glaubte bemerkt zu haben, dass es am Horizont schon wieder ein wenig hell geworden war. Sicher war sie sich nicht, da sie einfach zu viel getrunken hatte. An was sie sich noch sehr gut erinnern konnte, war der Moment, als sie Fabrice, nach einer weiteren verbalen Auseinandersetzung, mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte. Zu dem Zeitpunkt war sie noch ziemlich nüchtern gewesen. Erst danach hatte sie sich dann am Wodka vergriffen. Nina hatte vorhin wissen wollen, wann und mit wem Fabrice die Party verlassen hatte. Sarika hatte keine Ahnung. Auf alle Fälle war er nicht sofort abgehauen. Er war ihr noch ein paarmal an dem Abend aufgefallen. Seine Nase in Verbindung mit der aufgeplatzten Lippe und der Platzwunde hatte schlimm ausgesehen. Sein T-Shirt war voller Blut gewesen. Sarika war noch nie so von Sinnen gewesen. Der hatte es echt geschafft, sie auf die allerhöchste Palme zu bringen.

      Sie erhob sich, ging ans Auto, holte die Schachtel mit den Zigaretten aus dem Handschuhfach und eine kleine Flasche Wasser, die seit Tagen im Fußraum umherkullerte. Sie trank einen Schluck und verzog angewidert das Gesicht. Die Plörre war viel zu warm. Dann steckte sie sich eine Zigarette an. Nicht, weil sie jetzt rauchen musste. Nein, sie brauchte das nicht. Sie würde sich eigentlich sogar als Nichtraucherin bezeichnen. So eine Schachtel hielt bei ihr mehrere Wochen oder gar Monate. Doch der Rauch half ihr im Moment ein wenig, den üblen Geschmack nach Erbrochenem loszuwerden. Fest stand, dass sie der Polizei alles sagen würde, was sie wusste, um zu helfen, den Fall zu lösen. Dafür musste sie sich allerdings wieder an alles ganz genau erinnern. Sie hatte ja keinen Filmriss. Auf keinen Fall. Der Film war halt nur ein wenig verschwommen. Sie öffnete auf ihrem Handy die App für Notizen und begann, die Namen von denjenigen Personen einzugeben, die ihr vom gestrigen Abend noch einfielen. Es funktionierte. Je mehr Namen sie notierte, umso mehr andere kamen ihr in den Sinn.

      Kapitel 3

      Sonntag, 8. August 2021, 11:24 Uhr

      Betzdorf-Bruche