fing gellend an zu schreien, doch das Klatschen der Ohrfeige und der Schmerz ließen die Greisin verstummen.
„Wenn du nicht ruhig bist, knall ich dir noch eine“, schüchterte Magdalena die verängstigte Rentnerin ein. Sie warf einen Briefumschlag auf den Schoß der Alten und spottete: „Hier, von deinem Verehrer. Deine Lupe bring ich dir.“
Während die dicke Polin in einer uralten, dunkelbraunen Kommode kramte, über der ein riesiges, erdrückendes Kreuz hing, beruhigte sich Wilma Hönschemeier und murmelte Bibelverse vor sich hin.
„Sei froh, dass ich für deine tägliche Pflege so gut bezahlt werde, sonst würde ich dich hier verrecken lassen“, verhöhnte die Polin das alte Weib, warf ihr die Lupe auf den Schoß und verließ pfeifend den Raum. Sie ging in ihr Zimmer nebenan, schenkte sich zufrieden ein Glas Mariacron Weinbrand ein, öffnete eine Jumbotüte Kartoffelchips und griff gierig hinein. Sie schaltete ihren Computer an, setzte die Kopfhörer auf und richtete sich für einen langen Serienmarathon bei Netflix ein. Seitdem der Streaming-Anbieter auch in Deutschland online war, schaute sie kein Fernsehen mehr, sondern tauchte über Stunden in die Serienwelt ein von „Bloodline“ und Co.
Im Nebenzimmer strich sich Wilma Hönschemeier über ihre weißen Haare, welche sie nur noch mithilfe der dicken Polin zu einem Knoten binden konnte. Ihr eingefallenes, runzeliges Gesicht vergrößerte optisch ihre rund geratene Nase. Sie stand auf, ordnete ihr schwarzes, hochgeschlossenes Kleid mit den winzigen weißen Punkten und dem weißen Kragen, das ihr über die Oberschenkel gerutscht war und die dunkelbraunen Stützstrümpfe zum Vorschein brachte. Sie griff zu dem am Schaukelstuhl lehnenden alten Gehstock, humpelte an den kleinen, runden Tisch und ließ sich, immer noch müde, auf den mit Brokat gepolsterten Jugendstilsessel fallen. Die Greisin hielt andächtig den Brief in ihrer zittrigen, mit Altersflecken übersäten Hand. Obwohl ihre Augen von dunklen Ringen gerahmt waren, leuchteten sie beim Anblick des Kuverts. In ihrem durch tiefe Furchen gezeichneten Gesicht, welche sowohl horizontal als auch vertikal verliefen und dem Fell eines chinesischen Faltenhundes glichen, lag ein Lächeln, als sie den Brief öffnete und mit ihrer Lupe las.
Meine geliebte Wilma,
Die Schuldigen werden nun Gott ein Stück näherkommen, so wie du es mich gelehrt hast.
„Denn das Leben des Fleisches ist im Blut und ich habe es euch für den Altar gegeben. Denn das Blut ist es, das durch Leben Versöhnung erwirkt. Im Blut war die Seele und Gott beansprucht die Seele.
3. Mose. 17/11.
Karsten.
Der Alten liefen die Tränen herab und verfingen sich an einem langen Kinnhaar. Sie wischte sie mit ihrer knöchernen Hand ab, erhob sich und stützte sich dabei auf die Lehne ihres Stuhles. Schlurfend ging sie einige Schritte in ihren karierten Filzpantoffeln zum Altar, kniete nieder und betete mit leiser Stimme ihr alltägliches Gebet.
„Gegrüßet seist du, Maria.
Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat,
Jesus, der für uns gegeißelt worden ist,
Jesus, der für uns mit Dornen gekrönt worden ist,
Jesus, der für uns das schwere Kreuz getragen hat,
Jesus, der für uns als Menschenopfer gekreuzigt worden ist …“
Die alte Frau brach zusammen und konnte ihren Vers nicht mehr zu Ende sprechen. Sie stürzte zu Boden und riss dabei die auf dem Altar stehende Madonna mit, die am Boden laut scheppernd zerschlug.
Nebenan kreischte die dicke Polin vor Lachen, aber Wilma Hönschemeier konnte sie nicht mehr hören.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.