recherchiert und herausgefunden, dass er keine Familie hatte und sich engagierte für das Kinderheim „Junge Deerns“, für das er ein Ferienhaus auf Sylt bauen ließ, das kurz vor der Eröffnung stand. Bis auf den Bauskandal zog sich ein tadelloses Profil durch seinen Lebenslauf. Er hatte sich sogar besonders verdient gemacht, als er gemeinsam mit Sabine Spindt, einer ehemaligen Erzieherin des Mädchenheimes „Junge Deerns“, den Skandal aufdeckte, der zur Frühpensionierung der vorherigen Heimleitung geführt hatte. Strukturell bedingte, unwürdige Erziehungsmethoden wurden damals den dort beschäftigten Erzieherinnen vorgeworfen. Die gepeinigten Mädchen bekamen als Strafaktion nichts zu essen oder mussten mitten in der Nacht für mehrere Stunden in einem dunklen Raum im Keller stehen, bis die Beine zu zittern anfingen und sie erschöpft endlich ins Bett gehen durften. Nora schüttelte sich bei der Vorstellung, dass die abhängigen und schutzlosen Mädchen, so schwierig sie vielleicht auch gewesen sein mochten, dieser Quälerei ausgesetzt waren. Melzer hatte sich mit viel Sozialengagement vorbildlich um die Heimbewohnerinnen gekümmert und war sogar, wie Nora ebenfalls im Internet herausgefunden hatte, seit einem Jahr mit der neuen Heimleiterin Sabine Spindt liiert. Alles in allem ein anerkanntes, prominentes Mitglied der Hamburger Gesellschaft, welches lediglich an der einen oder anderen Stelle korrumpierend nachhalf. Wie es wohl die meisten taten, vermutete Nora. Nur Meister passte irgendwie nicht in seine Agenda.
Bevor sie sich einen Rotwein eingießen konnte, klingelte es an der Tür. Sie öffnete sie erwartungsvoll und versuchte gleichzeitig, die bellende Isa zu beruhigen. Vor ihr stand ein älterer Herr, mit schneeweißem Haar, festem, rundem Bauch und einer mit vielen geplatzten Äderchen durchzogenen Knollnase. Er strich sich durch seine lichten Haare und lächelte Nora freundlich an. „Frau Kardinal, herzlich willkommen, ich hoffe, Sie werden sich hier schnell einleben.“
Seine Stimme wirkte aufgrund ihres tiefen Klanges beruhigend auf sie.
„Herr Neumeier, nehme ich an? Ich freue mich sehr, auf gute Nachbarschaft! Stimmt es, dass Sie ein Opernsänger sind?“ Nora trat einen Schritt zurück und bat ihren Vermieter mit einer schwingenden Armbewegung in die Wohnung.
„War, Kindchen, war, meine Stimme ist zu alt. Ach, jetzt singe ich nur noch für mich und meinen Hund.“ Dabei deutete er auf die Pudelmischung zu seinen Füßen. „Oder für Sie, wenn Sie es mögen ...“ Er lachte dröhnend und hielt sich seinen wackelnden Bauch.
„Ich singe auch, also nur so zum Spaß“, sagte Nora verhalten und konnte ihren Blick nicht von dem schwingenden Kugelbauch abwenden. „Ich fahre gleich ins ,Birdland‘, da ist heute Vocalsession.“
„,Birdland‘? Schon mal gehört. Was bedeutet Vocalsession? Wissen Sie, ich bin Klassiker alter Schule.“ Er zuckte mit den Schultern und hob die Augenbrauen.
„Ein Jazzschuppen. Bei der Vocalsession treffen sich die unterschiedlichsten Menschen, die gemeinsam musizieren und singen. Einfach Spaß haben. Mögen Sie mitkommen?“
„Ach, Kindchen, vielleicht ein anderes Mal, heute nicht, aber ich wünsche Ihnen viel Spaß. Wenn was ist, melden Sie sich einfach. Und wenn ich Ihren Hund mal mitnehmen soll, sagen Sie mir ruhig Bescheid. Sie haben sicher viel zu tun.“ Er drehte sich um, hielt sich seinen runden Bauch, hob den Arm nach oben, trällerte die Arie „Nessun Dorma“ und schritt mit seiner älteren Pudeldame würdevoll die Treppe hoch. Oben angekommen, drehte er sich um und zwinkerte ihr zu, wie Peter Frankenfeld auf seiner Showtreppe.
Eine Stunde später radelte Nora los und hörte „Andante Andante“ von Abba. Nora war neben Elvis Presley auch ein großer Fan dieser schwedischen Popgruppe. Durch die Toreinfahrt des „Birdland“ fuhr sie zu den Fahrradständern, schloss ihr Rad an und betrat den Musikclub über die Kellertreppe. An der Garderobe saß eine etwa Mitte fünfzigjährige Frau mit kurzen, grauen Haaren. Sie trug Jeans, einen pinkfarbenen Pullover und lächelte freundlich. Nora zog ihre Kunstfelljacke aus und hängte sie an den Bügel. Sie fasste sich auf den Nasenrücken und bemerkte, dass sie ihre Brille vergessen hatte. Erhobenen Hauptes ging sie durch den Club und lächelte jeden Gast im „Birdland“ an, obwohl sie niemanden erkannt hatte. Nicht, dass es später heißt, die ist aber arrogant geworden, dachte Nora.
Als sie die Ahnengalerie der Jazzkoryphäen an den Wänden erblickte, geriet sie in einen kaum beschreibbaren wohligen Gemütszustand. An der Wand hingen in Öl gemalte, gold gerahmte Bilder von Miles Davis, Billie Holiday, Ella Fitzgerald, Sarah Vaughan und Louis Armstrong. Während Nora über einen der Musiker rätselte, der aussah wie George Clooney in jungen Jahren, stieß sie ein junger Mann an und schaute sie offen an. „Entschuldige, aber du hast mich so freundlich angelächelt, dass ich dich einfach ansprechen musste, aber umrennen wollte ich dich nicht, sorry noch mal. Möchtest du etwas trinken?“
„Ja gerne, einen Primitivo, bitte“, antwortete Nora und fühlte sich etwas überrumpelt, aber die Neugier überwog.
Während sie auf ihr Getränk wartete, erblickte sie die Pianistin für den heutigen Abend, jung, hübsch und mit einem perfekt geschnittenen, akkuraten Pony, nahm sie vor dem schwarzen, glänzenden Flügel Platz. Sie hatte das dunkle, lange Haar zu einem Seitenzopf gebunden und blätterte in ihren Noten. Die Hand des Schlagzeugers ruhte auf ihren Schultern, während er sich an ihr vorbeischlängelte, um sich an sein Schlagzeug setzen zu können. Er lächelte die Pianistin an, hockte sich auf den runden Lederstuhl, nahm die auf der Snare Drum abgelegten Brushes an sich und drehte sie akrobatisch in seinen Händen. Der Kontrabass wurde von einer zierlichen, schwarzhaarigen, in einem schwarzen Chiffonoverall gekleideten Französin gespielt. Nora nahm allen Mut zusammen und ging zur Pianistin.
Sie streckte ihren Arm aus. „Hallo, ich bin Nora, wie läuft die Vocalsession heute ab?“
Die Pianistin hob den Kopf und begrüßte sie. „Hallo Nora, ich bin Julia und begleite heute die Sänger durch den Abend. Hast du Noten für uns dabei?“
„Ja, ich möchte ,Can’t help falling in love‘ singen, in einer arrangierten Jazzversion.“
„Vor dir sind noch fünf Sängerinnen dran, und dann kommst du an die Reihe.“ Julia lächelte ermutigend und wandte sich sodann konzentriert ihren eigenen Noten zu.
„Bis gleich“, verabschiedete sich Nora und verließ die Bühne, die durch eine Vielzahl an einer langen Leiste angebrachten runden Glühbirnen erleuchtet war. Während sie sich suchend im Raum umschaute, bemerkte sie, wie sich ein Arm hob und ihr zuprostete. Jetzt erst nahm sie ihre Begegnung von eben genauer wahr. Der Mann, der mit ihrem Glas Primitivo auf sie wartete, sah gut aus, hatte aber für Noras Geschmack einen Rotschopf, der einen flotteren Haarschnitt vertragen könnte sowie einen zu lang geratenen Vollbart. Er war in ihrem Alter und trug ein schwarzes T-Shirt, auf dem ein verknoteter Kabelaufdruck zu sehen war, der an einem viereckigen Kasten hing.
„Hey, arbeitest du für die Telekom?“, wollte Nora scherzhaft wissen und wartete nicht auf seine Antwort. So gelungen fand sie ihre scherzhaft gemeinte Bemerkung nämlich nicht. Wahrscheinlich hörte er das häufiger.
„Wie heißt du?“
„Mike, Mike Hummel, nein, ich arbeite nicht für die Telekom, aber ich bin ein Fan vom CCC. Chaos Computer Club“, fügte er hinzu, ohne dabei belehrend zu wirken. „Und du? Wie nennt man dich?“
„Nora“, antwortete sie, nahm neben Mike an einem kleinen, runden Tisch Platz und legte ihr Handy auf den Tisch. Der Laden war voll mit jungen, aber auch älteren Musikinteressierten. Die Stimmung war vergleichbar mit einer Mischung aus Familientreffen, Abiturfeier und musikalischer Buchlesung. Aufgeregt schnatternde Teenager, wie vor Beginn einer Klassenfahrt, in Begleitung ihrer Familienangehörigen einerseits. Und ältere, intellektuelle Jazzliebhaber, die das Geschehen eher verhalten genossen, andererseits. Nora mochte vor allem das zwanglose Ambiente und fieberte mit jedem Künstler mit. Sie trank einen Schluck von dem beerigen, weichen Wein und schenkte ihre Aufmerksamkeit der ersten Sängerin. Eine ältere, sehr schlanke Frau mit weit aufgerissenen Augen, die ein T-Shirt aus Spitze trug, allerdings ohne Büstenhalter. Sie interpretierte auf dramatische Weise einen Jazzstandard, den Nora nicht kannte. Die Sängerin starrte in die Ferne, und Nora fand, dass sie aufgrund ihres gezierten Blickes wirkte, als sei sie seit Kurzem vom Wahnsinn befallen. Im gleichen Moment, da sie das dachte und sich für