Wilfried Oschischnig

TodesGrant


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      „Nur über meine Leiche! Ich knutsch mit keinem Menschenfresser!“

      „Eh, nur pro forma … Sobald die Rettung kommt, heben wir die Tür weg und tun so als ob. Vorschrift ist Vorschrift. Oder willst du dir wegen eines Mörders und Kannibalen auch noch ein Disziplinarverfahren einhandeln?“

      „Und seine Opfer, hat denen jemand geholfen?! Wer weiß, wie viele Leichen die Spurensicherung bei dem finden wird? Nein, du, ich knutsch mit keinem Mann und schon gar nicht mit einem Menschenfresser! Ich hauch dieses Schwein nicht einmal durch das Türschloss an.“

      „Glaubst du, ich will das? Ich hätt dem längst die Glock von vorne gezeigt, direkt zwischen den Augen.“

      Ja, was für ein Wahnsinn?! Heller Wahnsinn!

      Selbst der unbarmherzigste Rachegott würde eine sterbende Menschenseele nicht in solch einen Irrsinn treiben; selbst das schwerste Schädel-Hirn-Trauma wäre gnädiger, und das schlimmste Blutgerinnsel würde sich nicht mit solch grauenhaften Geschichten im Kopf auflösen. Aus und vorbei. Er konnte nicht mehr, er war zu erschöpft.

      Gradoneg gab auf.

      Und wenn er schon sterben würde, dann wollte er sich zumindest noch mit einer schönen Erinnerung von seiner Familie verabschieden. Irgendwann an diesem verfluchten Tag musste seine Welt ja noch in Ordnung gewesen sein. So real und banal, so zufrieden und glücklich wie sie ansonsten mit seiner Familie war. Bestimmt hatten sie noch heute Morgen alle gemeinsam gefrühstückt. Jausenbrote für die Kinder, ein Abschiedskuss für seine Ursula, der Ärger über das verschmutzte Katzenklo und dann noch die Schuhe putzen und zum ersten Kunden hetzen. Stimmte schon, der Tür und dem Tod würde er wohl nicht mehr entkommen, doch in seinen Gedanken könnte er sich vielleicht ein letztes Mal an den Frühstückstisch setzen. Ursulas Stimme hören, sich über den Glanz ihrer Augen freuen und mit den Kindern lachen.

      662 830 …?

      Weshalb tauchten diese Ziffern in seiner Erinnerung auf? Er wollte sich mit einem allerletzten Glücksgefühl von seiner Familie verabschieden und doch nicht mit rätselhaften Ziffern herumschlagen. Zum Teufel mit diesen Zahlen, seine wichtigsten Menschen zählten in diesem Moment. Ursula, Josef und Hemma.

      662 830 …? Weiterhin schimmerten die Zahlen in seinem Gedächtnis, ließen ihn einfach nicht zum Frühstückstisch zurückkehren. Oh Gott, verdammte Scheiße! Nicht das noch!, blinkte nun auch noch ein grelles Bild in ihm auf: Zwei Augen, rot gesprenkelt, mit murmelgroßen grüngelben Pupillen; ein Maul, das sich als blutiger Schnitt unter einer flachen Nase um einen pelzigen Tierschädel zieht. Haare so spitz wie japanische Stricknadeln, und ein Schrei, der jedes Trommelfell zerriss.

      Whitey!

      Natürlich, Whitey!

      Das war sein letzter Kontakt mit der Menschheit. Der Kater seiner Tochter Hemma.

      Nun lichtete sich der graue Nebel in seinem Kopf und ein schwarzer Kater sprang ihm ins Gedächtnis. Eben Hemmas Whitey. Ein kohlrabenschwarzer Vierbeiner, den Gradoneg aus einem paradoxen Protest heraus weiß anstrich und Whitey nannte, während diesen der Rest der Familie liebevoll Blacky rief. Alle in der Familie hatte dieses schwarze Wollknäuel um seine Pfoten gewickelt. Hemma streichelte den Kater schon wie ein Biobauer seine Kuh fast zu Tode, selbst Josef, bei dem die pubertierenden Pickel und coolen Sprüche um die Wette sprießten, wurde bei Whitey zum Gentleman und streute dem Vieh Rosen. Ja, als würde Odysseus oder sonst ein griechischer Held auf allen vieren durch die Wohnung kriechen, liebten alle das Tier. Sogar die ganze Nachbarschaft war nach Whitey verrückt. Kaum ein Tag verging, an dem nicht ein Fleischpaket auf dem Fußabstreifer der Gradonegs lag oder von der Türschnalle baumelte. Sonntags glich ihr Eingang manchmal schon einer Fleischtheke in einem Supermarkt. Alles für Whitey, alles für den Helden des Hauses. Ein Stück vom Schnitzel, das Fett vom Schweinsbraten, ein paar Gramm Faschiertes, die Flosse von einer Forelle … wie einem Götzen brachten die Hausbewohner dem Vieh ihre kulinarischen Schätze dar. Was Gradoneg zusehends auf den Magen schlug.

      Eifersüchtig? Ein neidischer Tierhasser?

      Nein, das war er nicht. Wirklich nicht. Eher ein Realist, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand und das Vieh von der ersten Sekunde an durchschaut hatte. Denn mit Whitey war ein gnadenloser Egoist und furchtbarer Herrscher unter seinem Dach eingezogen: Ein wohlwollender Schnurrer gegenüber seinen Untertanen, ein teuflischer Krallenausfahrer gegenüber Aufmuckern. Kurz: Ein gefährlicher Borderline-Egoist mit einem krankhaften Schwarz-Weiß-Denken. Seine Welt bestand lediglich aus Gut und Böse und Fressen und Gefressenwerden. Selbstverständlich fiel Gradoneg in die Kategorie ‚Gefressenwerden‘. Whitey entleerte seinen Darm grundsätzlich nur, wenn Gradoneg alleine daheim war; mit üblen Duftnoten markiert wurden prinzipiell nur Hemden; nass war immer nur Gradonegs Bettseite, zerrissen und zerkratzt immer nur seine Habseligkeiten. Ja, selbst als Gradoneg den Kater nach dessen Kastration mit einer sanften Streicheleinheit trösten wollte, fuhr das Tier seine Krallen zu einem blutigen ‚Nein‘ aus. So viel bedeutete diesem egoistischen Borderliner die Männersolidarität.

      Whitey!, seufzte Gradoneg ängstlich und traurig in sich hinein. Achtung! Der Whitey, ihr müsst den Whitey retten, bitte! Das arme Tier! Hört ihr mich! Bitte! Hinten, im Kinderzimmer …, wollte er die fremden Stimmen über ihm auf den Kater aufmerksam machen. Denn nun kam es ihm schlagartig in den Sinn, was sich an diesem Morgen vor seinem Unglück zugetragen hatte. Bild für Bild, Schrei für Schrei. Jede Szene konnte Gradoneg vor seinen inneren Augen wieder betrachten: Wie er in seinem besten Anzug und in höchster Eile irgendein schlecht verdautes ‚Kalbsgeschnetzeltes‘ oder eine ‚Ente in Joghurt‘ aus dem Katzenklo schaufelte. Fast riechen konnte er es in seiner Erinnerung. Alles klebte und stank, das Wasser in der Toilette drohte wegen des Kotes und klumpigen Katzenstreus überzu­schwappen, und der Muschelrand wurde dabei so braun, als hätte man diesen in ein Schokofondue getaucht. Wie immer: Alle waren sie weg, seine ganze Familie. Ursula in ihrem neuen Wollgeschäft, die Kinder in der Schule. Alle pünktlich und entspannt, wie ein vernünftiger Tag eben beginnen sollte – und nur er hatte wieder einmal den Kater und jede Menge Drecksarbeit am Hals. Du verdammtes Viech! Fressen und scheißen, mehr kannst du nicht, hörte sich Gradoneg mit dem Kater schimpfen. Du egoistischer Stinker! Ich lass dir den Magen verkleinern, ehrlich … wie bei den Hollywoodstars. Wegkastrieren! Alles sollte man dir wegkastrieren, nicht nur die Eier!, lief er dann wütend und verschwitzt – und für den ersten Kunden schon viel zu spät – ins Badezimmer. Verwechselte dort auch noch sein Deodorant mit dem Raumspray, jammerte hysterisch: „Du gemeiner Hund, wegen dir stink ich nach ‚Ocean Adventure‘“, sah er verblüfft auf den Schriftzug des Raumsprays. „Scheiße! Jetzt lauf ich den ganzen Tag wie ein Vertreter für Sanitäranlagen herum!“ Knallte so wutentbrannt das Raumspray ins Waschbecken, dass dieser zu explodieren drohte.

      Und plötzlich hörte er den Schrei. Gellend, ohrenbetäubend und so verzweifelt, als würde man einer Nerzfarm das Fell abziehen.

      Whitey!, rannte er los, jagte diesem fürchterlichen Schrei nach.

      Whitey!, suchte er die Wohnung nach Hemmas geliebtem Kater ab.

      Die Küche, das Wohnzimmer, die Kinderzimmer … Und dort hing er: Kopfüber von der Heizung hauchte Whitey gerade sein letztes Katzenleben aus. Oben im gerillten Heizungsblech hatte er sich eine Pfote, einen Zehenballen eingeklemmt. Das gefangene Bein fast schon so lang wie sein Schwanz, der verzweifelt gegen den Heizkörper drosch. Mit jedem Schlag näher am Tod. Immer tiefer zog ihn die Schwerkraft ins Unglück, sein Fell sträubte sich dagegen und aus dem Maul tropfte ein blutiger Brei.

      Und was tat Gradoneg?

      Dieser Trottel! Ja, dieser Trottel rüttelte nur panisch an der Heizung, als wäre das Tier Fallobst. Rüttelte und rüttelte. Wie eine Abrissbirne schepperte Whiteys Schädel gegen das Blech. Dieser Vollkoffer schlug ihn auch noch bewusstlos! Trottel, verdammter! Das befreite doch nicht das Tier. Alles, was bei dieser sinnlosen Heizungsrüttelei den Gesetzen der Schwerkraft folgte, waren die Harry-Potter-Figuren auf dem Ikea-Regal daneben. Ron Weasley, Hermine Granger, Draco Malfoy und Dobby, der Hauself … alle kullerten sie zu Boden, nur nicht der arme Whitey. Alles im Kinderzimmer fiel und fiel, nur Whitey blieb an der Heizung hängen. Eine Ewigkeit und Hundert Millionen Lichtjahre