Stattdessen sprach er in der Fernsehübertragung nach der Wahl von einer israelischen Lösung (Mit der der unterlege Staatschef zunächst weiter regieren kann, bis er entsprechend der zuvor getroffenen gemeinsamen Vereinbarung durch seinen siegreichen Konkurrenten abgelöst wird). Das war für damalige deutsche Situation unsinnig. Wie auch immer, durch diesen Schrödervorstoß unterblieb eine kritische parteiinterne Reflexion des sehr knappen Wahlerfolgs von Angela Merkel, vielmehr stellte sich nun die CDU voll hinter die neue Kanzlerin Merkel. Die Kanzlerschaft von Frau Merkel hatte ich damals sehr begrüßt, wie später auch die Präsidentschaft von Joachim Gauck. Damit wurden die beiden höchsten politischen Positionen Deutschlands von zwei Ostdeutschen besetzt. Das erschien mir wichtig und richtig. Denn die Ostdeutschen konnten sich zunächst parteipolitisch kaum wirksam gruppieren, zum einen wegen der abgewirtschafteten SED, die sie ja quasi grade „verjagt“ hatten, und zum anderen, weil sie bei null anfangen mussten. Sie hatten nicht die Organisationsstrukturen und waren noch nicht mit dem eingespielten politischen Parteiensystem Westdeutschlands vertraut. In Sinne einer Wiedervereinigung war es gleichfalls wichtig, eine gemeinsame Parteienlandschaft aufzubauen. Mit der ostdeutschen Besetzung der Spitzenämter war aus meiner Sicht ein sinnvoller und richtiger Anfang erfolgt. In der Kanzlerschaft von Frau Merkel sah ich einen weiteren positiven Aspekt. Damit wurde dieses Amt endlich auch mal von einer Frau besetzt.
Die Kanzlerin Merkel regierte erfolgreich von 2005 bis 2009 in einer Koalition mit der SPD, von 2009 bis 2013 mit der FDP, von 2013 bis 2018 erneut mit der SPD, mit der sie in ihrer voraussichtlich letzten Phase auch bis 2021 regieren wird. In diese Zeit war Christian Wulff, der spätere Bundespräsident, Ministerpräsident des von der CDU regierten Niedersachsen. Herr Wulf schaffte es, die Landesfinanzen von Niedersachsen durch rigoroses Sparen zu stabilisieren, u. a. auch durch massive Kürzungen der Mittel im Wissenschaftsbereich. Er setzte dann an der Universität Hildesheim die Verleihung der Ehrendoktorwürde für seinen Freund Carsten Maschmeyer durch, obwohl dieser weder über ein abgeschlossenes Studium noch über wissenschaftliche Meriten verfügte (Beward, M., 2012, Google 28.3.2019). Angeblich hatte die Bürgerschaft die Verleihung vorgeschlagen. Für die betreffende niedersächsische Universität ein heikler Vorgang. Die Behandlung dieses Vorgangs konnte ggf. Auswirkungen auf die weitere Mittelausstattung haben. Herr Maschmeyer bekam die Ehrendoktorwürde. Ministerpräsident Wulff hielt dann an der Universität die Laudatio zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an seinen Freund Maschmeyer. Als Wissenschaftler, der lange Vorsitzender der Promotionskommission seiner Fakultät war, kann ich diese Verleihung nur äußerst kritisch sehen. An meiner Universität hätte ich bei einem derartigen Vorgang mein Amt aus Protest vorher niedergelegt.
Nach dem plötzlichen Rücktritt von Bundespräsidenten Köhler 2010 wurde Christian Wulff zum neuen Bundespräsidenten gewählt. Die plötzliche Kandidatur und Wahl von Christian Wulff zum Bundespräsidenten ist irritierend. Ein Ministerpräsident ist in seinem Bundesland die Spitzenperson seiner Partei. Das spricht dafür, dass er sich mit Vollblut für das Amt und die Umsetzung der politischen Linie seiner Partei, die er letztlich selbst mitprägte und bestimmte, einsetzt. Herr Wulff konnte das anscheinend von einem Tag zum anderen ablegen und sich nun der Wahl des auf Neutralität verpflichteten Bundespräsidenten stellen. Das ist für mich absolut unglaubwürdiger Opportunismus. Frau Merkel unterstützte und befürwortete trotzdem diese Wahl. In Tageszeitungen gab es damals Mutmaßungen, dass Christian Wulf ein Konkurrent für die Kanzlerin werden könnte und sie deshalb seine Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten unterstützt. Rückblickend bin ich der Auffassung, Herr Wulff hatte nie das Format eines wirklichen Konkurrenten für Kanzlerin Merkel. Christian Wulff ist dann bekanntlich nach einer Kontroverse mit der Bildzeitung, in der er Drohungen gegenüber dieser Zeitung aussprach, sowie wegen eines gegen ihn gerichteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zurückgetreten. Aus meiner Sicht war erfreulich, dass nun Joachim Gauck zum neuen Bundespräsidenten gewählt wurde.
In der Zeit unter Kanzlerin Merkel gab es einige weitere einschneidende Veränderungen. Der unter Bundeskanzler Schröder 2002 eingeleitete Einsatz der Bundeswehr als Verbündeter der Nato in Afghanistan wurde zunehmend kriegerischer (2.2.3, S. 149). In Anbetracht der wachsenden internationalen Aufgaben der Bundeswehr und der begrenzten Ressourcen erfolgt unter Verteidigungsminister von Gutenberg eine umfassende Reform mit der Abschaffung der Wehrpflicht und Umstrukturierung zu einer wesentlich kleineren Berufsarmee. Die Chance zur Umwandlung der nun erlassenen Wehrpflichtzeit in die Verpflichtung eines sozialen Jahres wurde wohl aus wahltaktischen Gründen von der Regierung nicht genutzt. Theo von Gutenberg verlor bekanntlich wegen nachgewiesener Plagiatsfälle seiner Dissertation den Doktortitel (Er hat 1919 mit einer neu erarbeiteten Dissertation zu Recht promoviert). Das führte zu seinem Rücktritt. Nicht viel später wies man der damaligen Ministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, ebenfalls Plagiatsstellen in ihrer Doktorarbeit nach. Für eine Ministerin, die für den Wissenschaftsbereich zuständig ist, war das besonders verwerflich und enttäuschend. Frau Schavan trat aber erst nach ihrem nicht erfolgreichen juristischen Widerstand zurück.
Diese Ereignisse sind der Kanzlerin Merkel in keiner Weise anzulasten. In ihrer Regierungszeit war die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland von großem Erfolg geprägt und vom gleichzeitigem wachsenden Einfluss Deutschlands in der EU, in besonders enger Kooperation mit Frankreich. Allerdings muss anerkannt werden, dass trotz der Kritik an Kanzler Schröder mit dessen Sozialabbau und Steuerpolitik wichtige Voraussetzungen für den Erfolg der deutschen Wirtschaft geschaffen wurden. Den von Schröder eingeleiteten Wirtschaftserfolg schrieb die breite Bevölkerung aber der Regierung Merkel zu, denn unter ihrer Kanzlerschaft wurden die Erfolge realisiert. Die sozialen Opfer blieben hingegen an der SPD hängen, da der erhebliche Sozialabbau schließlich unter dem SPD-Kanzler Schröder stattfand.
Die Kanzlerschaft Merkel war aber zugleich auch mit steigenden deutschen Beiträgen zur Finanzierung der EU verbunden. In Deutschland wuchs der Wohlstand, aber die Verteilung veränderte sich allmählich scherenartig. Die Zahl der Wohlhabenden und sehr Wohlhabenden nahm zu, aber umgekehrt auch die Personenzahl der ärmeren Bevölkerung, etwa wie das Spreizen einer sich öffnenden Schere ( 3.4 Soziale Spaltung). Mit den nominal steigenden Einkommen stieg letztlich auch die Belastung durch die Steuerprogression, obwohl sich die Inflationsquote auf verhältnismäßig niedrigem Niveau bewegte. In Anbetracht, dass in der Steuerprogression die inflationsbedingte Geldentwertung keine Berücksichtigung fand und eine Anpassung der Steuersätze an die Entwicklung weitgehend unterblieb, wurden im zeitlichen Verlauf immer mehr Personen, vor allem auch Mittelständler, von höheren Progressionssätzen betroffen. Für Spitzenverdiener veränderte sich kaum etwas. Deshalb wird die soziale Einkommensspaltung im erheblichen Maße von der Steuerpolitik der Bundesregierung mit verursacht, wie im Abschnitt „Soziale Spaltung“ näher dargelegt ist.
In der Rentenentwicklung und deren Perspektiven zeichneten sich neue Probleme und Herausforderungen ab. Durch die weiter angestiegene Dauer der Lebenszeiten und der langen Ausbildungszeiten müssen, wie oben dargestellt wurde (S. 1.3, S. 58-59), die Renten für immer mehr Rentner und diese für immer längere Zeiträume von einer demografisch bedingt rückläufigen Bevölkerung bei sinkender Lebensarbeitszeit erbracht werden. Jungen, die im Jahr 2000 geboren werden, haben statistisch eine Lebenserwartung von ca. 75 Jahren, Mädchen von ca. 81 Jahren. Für Kinder, die 2020 geboren wurden, erhöht sich die Lebenserwartung bereits auf etwa 79 bzw. 84 Jahre. Die Altersversorgung muss also immer länger gezahlt werden. Zudem haben sich die Ausbildungszeiten deutlich verlängert. Der Großteil der jungen Menschen tritt deshalb erst nach dem 20. Lebensjahr in die Berufsausübung ein. Erst dann zahlen sie Rentenbeiträge. 2010 lag die durchschnittliche Bezugsdauer der Versicherungsrenten bei 18,5 Jahren, 2018 war sie bereits auf 20 Jahre gestiegen (Angabe der Rentenversicherungsträger vom 17.6.2019). Bei Männern betrug der Anstieg 16,2 J. auf 18 J., bei Frauen von 20,9 J. auf 21,8 J. Deshalb werden für die Renten immer mehr Mittel benötigt. Zugleich steht eine ansteigende Altersarmut bevor. Aufgrund der unter Schröder und Riester eingeführten Rentenformel sind die Rentenbezüge schon heute auf durchschnittlich 48 %, also weniger als die Hälfte des letzten Nettolohns, abgesunken. Zudem sind Renten