Alida Leimbach

Die Tote von der Maiwoche


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dem Unterarm über die schwitzende Stirn.

      »Warum kann das nicht sein?«

      »Weil sie gestern Abend noch putzmunter war«, murmelte er.

      »Kommen Sie«, sagte Birthe freundlich. »Wir gehen in mein Auto und unterhalten uns in Ruhe.«

      »Ich will in die Wohnung! Ich muss zu ihr! Ich bin ihr Freund! Ich will sie sehen!« Seine Augen blickten flehentlich zu ihr auf. Es wirkte übertrieben, sodass Birthe sich fragte, ob er ihr etwas vorspielte.

      »Das geht leider nicht. Hier werden gerade Spuren gesichert.«

      »Spuren gesichert? Warum? Sagen Sie mir die Wahrheit: Ist sie ermordet worden?«

      Birthe musterte ihn schweigend.

      »Das glaub ich nicht! Welches Drecksschwein war das?« Entschlossen drängte er sich an ihr vorbei. »Jetzt hat sie es endlich geschafft, jetzt hat sie erreicht, was sie wollte.«

      Birthe war für eine Sekunde nicht präsent genug gewesen und ärgerte sich über sich selbst. Sie lief ihm hinterher. »Halt! Bleiben Sie stehen! Sie dürfen da nicht rein!«

      Er hatte es bis in den Flur von Jessica Wagners Wohnung geschafft und wusste anscheinend genau, wo sie sich befand, denn mit einem Satz war er bei ihr. »Das ist nicht wahr! Mein Gott, Jessi … Was ist passiert? Wer hat dir das angetan?«

      »Wenn Sie nicht augenblicklich den Tatort verlassen, muss ich Ihnen Handfesseln anlegen«, sagte Birthe.

      Sie verständigte sich über Gesten mit ihren Kollegen. »Sie stören die Ermittlungen, Herr Tobecke. Solange Spuren gesichert werden, darf kein Unbefugter den Tatort betreten. Ich habe Ihnen angeboten, in meinem Wagen zu reden.«

      »Ich bin kein Unbefugter!«, stellte er klar. »Ich bin ihr Freund.«

      »Ihr Lebenspartner?«

      »Also gut, ich gehe mit Ihnen. Für ein paar Minuten«, gab er nach. Sichtbar müde folgte er ihr nach draußen. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte Birthe den Dienstwagen geparkt.

      Im Fahrzeug nahm sie seine Personalien auf. Mit ihrem Diensthandy zeichnete sie das Gespräch auf.

      »Ich verstehe das alles nicht. Es ist schwer zu begreifen«, sagte er matt und wischte sich mit den Händen über die Augen. Endlich schien er ruhiger zu werden. »Gestern Abend standen wir noch zusammen auf der Bühne. Jessi war klasse, sie hat zum ersten Mal solo gesungen, als Frontsängerin, und sie war gut, die Leute liebten sie, haben sie gefeiert. Jessi hat viel Applaus bekommen, viel mehr als wir alle zusammen, es war richtig geil. Sie kann nicht tot sein. So ein quirliges Mädchen kann nicht tot sein.« Er holte Luft und stieß einen tiefen Seufzer aus.

      Birthe ließ ihm Zeit. »In welcher Beziehung standen Sie zueinander, Sie und Frau Wagner?«, fragte sie dann.

      »Ich war ihr Manager.«

      »Sie haben eben gesagt, Sie wären ihr Freund gewesen.«

      »Ja … gut, Manager und Freund. Ein Freund, nicht ihr Freund.«

      »Hatte sie denn einen Freund?«

      »Pff, keine Ahnung. Ich glaube nicht.«

      Sie sah ihn prüfend von der Seite an. Er reagierte kaum, blickte nur kurz auf, als er merkte, dass er gemustert wurde.

      »Was haben Sie vorhin damit gemeint, als Sie gesagt haben, sie hätte es endlich geschafft, sie hätte erreicht, was sie wollte. Wen meinen Sie damit? Wer ist ›sie‹?«

      Er presste seine Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf.

      Birthe wartete ab, doch er schwieg beharrlich. »Erzählen Sie vom gestrigen Abend.«

      »Wir waren am Jürgensort. Jessi hat die Frontsängerin ersetzt, weil sie erkrankt ist. Danach sind wir noch einen trinken gegangen. Wir wollten zum Maibrunnen an der Marienkirche, da feiern wir eigentlich jedes Jahr, auch wenn es vom Jürgensort aus etwas weiter ist. Das war Jessi offenbar zu weit, sie wollte nicht mit. Sie sagte, sie sei müde, und wollte schlafen gehen.«

      »Definieren Sie bitte Ihre Freundschaft zu Jessica Wagner genauer. Gab es über das rein Berufliche hinweg eine private Beziehung? Eine sexuelle Beziehung?«

      Tobecke blähte die Wangen auf. »Mein Gott, nein. Es war nicht einmal eine Affäre.«

      »Aber Sex. War Liebe im Spiel?«

      »Nein.«

      »Bei Frau Wagner auch nicht?«

      Sein Blick wanderte zur Wagendecke. »Ich kann in die Frauen nicht reingucken. Das ist mir noch nie geglückt. Ich bin solo. Und das soll eigentlich auch so bleiben. Also, ich glaube nicht, dass Jessi mehr wollte als ein Trittbrett für ihre Karriere, wie viele Mädels, die ins Musikbusiness einsteigen. Das habe ich ihr ermöglicht.«

      »Hätte sie das aufgrund ihres Talents nicht bekommen?«

      Treuherzig sah er sie an. »Doch, aber Jessica wollte es so. Das versichere ich Ihnen.«

      »Nächste Frage: Wie viele Musiker sind in der Band?«

      »Wir sind zu fünft. Drei Jungs und zwei Mädels.«

      »Jessica Wagner war vorher nicht Teil der Band?«

      »Doch. Sie stieg vor ein paar Monaten als Backgroundsängerin ein, zusammen mit einer anderen. Da ist sie mir aufgefallen.«

      »Wer ist die andere?«

      »Sie heißt Angie. Ihren Nachnamen weiß ich nicht mehr. Wirklich toll hat sie nicht gesungen. Jessica war definitiv die bessere Sängerin. Optisch haben die beiden Mädels aber zueinander gepasst, die eine blond, die andere brünett, beide in etwa gleich groß, die gleiche Figur, da habe ich sie beide gebucht. Als Gesamtpaket funktionierten sie ganz gut.«

      Sie wurden von Birthes Privathandy unterbrochen, das viel zu laut klingelte. Ihre Schwester hatte sich lange nicht mehr gemeldet. Birthe murmelte eine Entschuldigung und ging kurz dran. »Es passt gerade nicht, Sophia, bin mitten in einer Vernehmung. Kann ich dich später zurückrufen?«

      »Klar, mach nur«, antwortete ihre Schwester mit tränenerstickter Stimme.

      »Bis später dann.« Irritiert legte Birthe auf. Dann schaltete sie das Handy aus. »Entschuldigung«, murmelte sie. »Also, noch mal zurück zu dem, was Sie eben gesagt haben: »Wer ist ›sie‹? Wer hat es geschafft? Wer hat erreicht, was er oder sie wollte?«

      »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

      »Das haben Sie mir eben gesagt: Sie haben gesagt: ›Jetzt hat sie endlich erreicht, was sie wollte.‹ Wen meinen Sie damit?«

      Sein Gesicht spiegelte völlige Ahnungslosigkeit wider. »Ich weiß es nicht. Muss wohl irgendwas geträumt haben. Ich meine niemanden damit.«

      Birthe nahm ihr Tablet und tippte etwas hinein. Trotzdem entließ sie ihn noch nicht. Sollte er sich ruhig ein wenig langweilen.

      Kapitel 4

      Ich habe seit zwei Tagen nicht mehr geschrieben. Eigentlich schreibe ich überhaupt nicht gerne, aber Maren verlangt das von mir. Es sei Teil der Therapie, erklärt sie jedes Mal aufs Neue. Ein Tagebuch soll ich führen, dabei liegt mir das überhaupt nicht. Wenn die Seiten leer geblieben sind, finde ich keinen richtigen Anfang. Ich sehe keinen Sinn darin, habe mein Leben lang nicht gerne geschrieben. Aber Maren glaubt, ich bekomme meine Aggressionen am besten in den Griff, wenn ich alles aufschreibe, was mich belastet. Das wäre besser, als andere darunter leiden zu lassen. Sicher stimmt das, aber wenn ich unterwegs einen Rappel kriege, ist ja auch nicht gleich Papier und Stift zur Hand. Und wenn ich dann zu Hause bin und schreiben könnte, ist meine Wut nicht mehr so stark, sondern hat sich inzwischen abgekühlt.

      Trotzdem ist Maren der Meinung, ich würde mich besser fühlen, wenn ich schreibe. Manchmal glaube ich ihr sogar. Manchmal fühle ich mich tatsächlich besser. Aber im Moment fühle ich gar nichts. Da ist nur Leere, ein großes Fragezeichen.

      Gestern