Alida Leimbach

Die Tote von der Maiwoche


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war ordentlich was los. Wir haben am Markt Bier getrunken und was gegessen. Dann sind wir weitergelaufen bis zum Nikolaiort und haben uns da umgesehen. Eine Band hat gespielt. Das war aber nicht wirklich meine Mucke und wir sind weitergezogen. In der Großen Straße wurde es richtig voll. In der Georgstraße sind wir auch nur kurz stehen geblieben und haben einer Coverband zugehört, dann sind wir noch einmal weitergezogen bis zum Jürgensort. Und da habe ich sie entdeckt. Jessi stand ganz vorne, das war ein ungewohnter Anblick. Sonst war ihr Platz immer hinter den Gitarristen. Manchmal sah man sie gar nicht. Aber heute wirkte sie wie ein Star. Wunderhübsch. Ich habe sie lange angestarrt. Die anderen Musiker aus der Band habe ich gar nicht wahrgenommen. Ich könnte nicht mal sagen, wer sonst noch mit dabei war und was sie anhatten. Jessi hat mich überrascht. Ich wusste gar nicht, dass sie mittlerweile so gut singen kann. Irgendjemand hat mal gesagt, ihre Stimme sei mittelmäßig und reiche nur für den Backgroundchor, aber nun weiß ich, dass das nicht stimmt. Sie hat wirklich krass gesungen, an einigen Stellen sogar solo. Auf mich hat sie wie eine richtige Sängerin gewirkt, cool und souverän. Wie ein Star eben.

      Nebenan war ein Getränkestand und wir haben noch ein oder zwei Biere geholt. Die anderen hatten dann keine Lust mehr und sind weitergezogen. Ich bin geblieben. Ich wollte Jessi bis zum Schluss sehen. Ich stand da mit meiner Bierflasche in der Hand und habe sie, glaube ich, völlig perplex angestarrt. Im ersten Moment war ich glücklich, aber dann kam diese komische Stimmung wieder, die mir immer den Boden unter den Füßen wegreißt. Mir wurde ganz schlecht vor Melancholie und Einsamkeit inmitten der vielen Menschen, trotzdem konnte ich mich nicht überwinden weiterzugehen. Hätte ich das nur getan. Aber ich konnte nicht. Irgendeine höhere Macht hat mich gezwungen zu bleiben. Mich zieht das Unglück einfach magisch an. Ich habe das falsche Gespür, gerate immer in Situationen, die mir nicht guttun. Ich suche und finde das Unglück.

      Meine Therapeutin sagt, ich würde mich damit unbewusst meiner Vergangenheit stellen. Das Gefühl von Einsamkeit wäre der Moment, in dem ich mir meiner Verlustängste und Traumata bewusst wäre. Ich sollte das aushalten, nicht dagegen angehen, dann würde es besser werden und vielleicht irgendwann ganz verschwinden. Im Flow bleiben, nennt sie das. Alles, was ich brauche, sei Geduld. Aber bisher warte ich vergebens. Im Gegenteil, es wird schlimmer und schlimmer. Ich komme immer schlechter mit mir selber klar.

      Als das Konzert zu Ende war, habe ich auf sie gewartet. Eigentlich wollte ich nichts Bestimmtes von ihr, einfach nur in ihrer Nähe sein, mit ihr reden, ihr zu dem tollen Auftritt gratulieren. Aber sie hat mir wieder mal die kalte Schulter gezeigt. Kenn ich ja schon. Sie sei müde, hat sie gesagt, habe keine Lust mehr und wolle schnell nach Hause, aber ich habe ihr das nicht abgenommen. Sie sah überhaupt nicht müde aus. Hat mich einfach abblitzen lassen. Richtig blöd bin ich mir vorgekommen. Ein Autogramm hätte sie mir wenigstens geben können, irgendetwas, das ich mit nach Hause hätte nehmen können. Etwas von ihr eben. Ich war sehr enttäuscht, wollte mich aber nicht so einfach abschütteln lassen.

      Sie ging zu den Bussen am Neumarkt, und ich bin ihr gefolgt. Ich glaube, sie hat das nicht mitbekommen, jedenfalls hat sie sich kein einziges Mal umgedreht. Es war ja auch so viel los auf der Maiwoche, dass es seltsam gewesen wäre, wenn sie sich verfolgt gefühlt hätte. Wahrscheinlich wusste sie, wie die Busse abends fahren, denn lange warten mussten wir nicht. Nach ein paar Minuten kam die 36 in Richtung Eversburg. Sie ist vorne eingestiegen, hat sich gleich hingesetzt, während ich schnell nach hinten durchging. Ich glaube, sie hat das nicht mitbekommen, denn der Bus war knackvoll. Viele Leute mussten stehen.

      Auf der Fahrt ist mir vieles durch den Kopf gegangen. Ich habe mich wieder mal gefragt, woher die Ungerechtigkeit in der Welt kommt. Manche Menschen werden mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Sie haben von Anfang an gute Karten, waren ein Wunschkind, haben Eltern und Großeltern, die sie vom ersten Atemzug an lieben und verwöhnen, die alles für sie tun, ihr Leben für sie geben würden. Hauptsache, dem Kind geht es gut, Hauptsache, es hat alles, was es braucht, und noch viel, viel mehr. Wer hat, bekommt noch mehr. Das ist die große Ungerechtigkeit in der Welt. Andere hingegen müssen mit fast nichts auskommen. Keiner will sie, sie sind ungeliebt, von Geburt an, und keiner kümmert sich richtig darum. Ihnen fehlt alles, was ein gutes Leben ausmacht: Liebe, Wärme, Geborgenheit, körperliche und geistige Nahrung. Es fehlen einfach jene Startbedingungen, die ein glückliches, gelingendes Leben ausmachen. Sie lernen von Anfang an zu verzichten und zu entbehren, und kein Jugendamt der Welt schert sich darum. Warum ist das so? Warum werden Menschen geboren, um glücklich zu sein, und andere, um unglücklich zu sein? Wer ist schuld an dieser Ungerechtigkeit? Warum können nicht alle Menschen die gleichen Startbedingungen haben? Dann wäre die Welt viel reicher, und alle würden viel freundlicher miteinander umgehen. Ich suche ständig nach Antworten. Den Politikern kann man nicht die Schuld geben, so viel habe ich inzwischen gelernt. Ihre Aufgabe ist es nicht, es allen recht zu machen. Sie sind nicht für unser Glück verantwortlich. Sie werden es niemals erreichen, jede Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen und für Gleichheit zu sorgen. Und es wäre fatal, aus lauter Unzufriedenheit den Falschen hinterherzulaufen. Maren sagt, ich soll aufhören, so viel zu grübeln, das würde nichts bringen und mich fertigmachen, es würde sowieso nichts ändern, aber das ist leicht gesagt. Wenn diese Gedanken kommen, kann ich nichts dagegen tun. Sie überrollen mich und ich fühle mich dann noch schlechter, noch minderwertiger als sonst. Ich muss abwarten, bis sie von selbst aufhören. Übrigens stimmt es nicht, dass man nichts dagegen tun kann, man kann. Das weiß ich aus Erfahrung. Zumindest kurzfristig geht es einem dann besser. Aber was ich mache, ist immer nur falsch.

      *

      Tobecke wickelte ein Kaugummi aus dem Papier und steckte ihn sich in den Mund.

      Birthe sah ihm dabei zu. »Machen wir weiter, Herr Tobecke«, sagte sie erschöpft. »Erinnern Sie sich an den gestrigen Auftritt. Wie hat Jessica Wagner auf Sie gewirkt?«

      Carsten Tobecke knetete seinen Hut zwischen den Händen und kaute vor sich hin. »Sie war … wie wir alle … glücklich. Alles lief rund. Keine einzige Panne. Wir waren alle happy und sind feiern gegangen, leider, wie gesagt, ohne Jessi.«

      »Kein Streit im Vorfeld?«

      Mit einem fast betrübten Ausdruck schüttelte Carsten Tobecke den Kopf. »Nein, absolut nicht.«

      »Was war vorher? Ich könnte mir denken, dass so ein Auftritt recht anstrengend ist. Lange Proben, man muss sich abstimmen, verbringt viel Zeit miteinander, da passiert es leicht, dass es zu Meinungsverschiedenheiten kommt, zu einem Streit, dass manchmal sogar die Fetzen fliegen.«

      Tobecke wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Kann passieren, wir sind ja alle keine Heiligen. Aber Jessi hatte keine Feinde. Die mochte jeder.«

      »Es müssen nicht gleich Feinde sein, manchmal entsteht ein Streit aus dem Nichts. Da reicht es schon mal, dass man schlecht geschlafen hat und gestresst ist. Und bei temperamentvollen Gemütern schaukelt er sich schon mal hoch. Da können Kleinigkeiten, die einen normalerweise nicht aufregen, zu einem Riesenstreit führen.« Birthe merkte an seiner Reaktion, dass sie ins Schwarze getroffen hatte, während Tobecke versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

      »Jessi gehörte noch nicht richtig zur Band«, fuhr er fort. »Sie hat gestern zum ersten Mal vorne gesungen und dann gleich solo. Das war ihr Einstand sozusagen. Sie hat ihre Sache wirklich gut gemacht. Wir waren alle sehr zufrieden. Richtig happy waren wir.«

      »Was ist mit der kranken Sängerin? War sie auch happy, dass Jessica Wagner für sie eingesprungen ist?«

      Überrascht hob er den Kopf. Mit einigem Zögern setzte er zur Antwort an. »Ich denke schon. Wenn man ausfällt, gibt es Ersatz. Das ist ganz normal. In jeder Branche ist das der Fall. Bei Ihnen doch auch, oder nicht? Oder bringen Sie gleich Ihren Kollegen um, wenn er Sie im Krankheitsfall ersetzt?« Er machte ein schmatzendes Geräusch mit seinem Kaugummi.

      »Ich habe nicht gesagt, dass ich die kranke Sängerin verdächtige. Wie heißt sie überhaupt?«

      »Katharina Jütting.«

      »Könnte ich einen Grund haben, Frau Jütting zu verdächtigen?«

      Carsten Tobecke sah zur Wagendecke und machte eine Blase mit dem Kaugummi. »Das habe ich nicht behauptet. Aber beste Freundinnen waren sie sicher nicht.«

      »Vorhin