Klaus-Jürgen Bremm

1866


Скачать книгу

„Weder die Ehre Englands noch seine Interessen sind betroffen.“ Apeasement und Kalkül – Großbritanniens Neutralität im Krieg von 1866

       1866 – Triumph der Ungarn und Trauma der Deutsch-Österreicher

       Nationalstaat oder Föderation? – War Bismarcks militärische Reichsgründung alternativlos?

       Anhang

       Anmerkungen

       Abbildungsnachweis

       Bibliografie

       Register

      Menü

       Buch lesen

       Innentitel

       Inhaltsverzeichnis

       Informationen zum Buch

       Informationen zum Autor

       Impressum

       Einleitung

      „Graf Bismarck hat neben sich einen zögernden Souverän mit einem unsicheren Gewissen, das unter verschiedenen gemischten und gearteten Einfüssen handelt; er hat ferner eine feindliche Nation vor sich und hinter sich eine Sache, die, bis zu einem gewissen Grade in ihrem Ziel volkstümlich, doch in der Form und der Methode dem öffentlichen Gefühl widerstrebt.“

      Francis Napier of Merchistone, Britischer Botschafter in Berlin, am 14. Oktober 18651

      Am 3. Juli 1866 stürmte das I. Bataillon des 7. Westfälischen Infanterie-Regimentes Nr. 56 gegen 14.30 Uhr die Ortschaft Problus, den südlichen Eckpunkt der österreichisch-sächsischen Stellung bei Königgrätz. Gut 1500 Meter offenes Gelände hatten die Angreifer unter heftigem Gewehr- und flankierenden Kartätschenfeuer bis zum Ortsrand zu überwinden. Die preußischen Verluste waren beträchtlich: 18 Offziere sowie 317 Unteroffiziere und Mannschaften des in Köln stationierten Regimentes waren am Abend entweder tot oder verwundet.2

      Zu den ganz übel Zugerichteten zählte auch ein gewisser Johann Konrad Adenauer aus der Domstadt, ein stattlicher Mann in den Dreißigern, der in 15 Dienstjahren zum Feldwebel aufgestiegen war. Schon im folgenden Jahr musste Adenauer, der zuvor noch ehrenhalber zum niedrigsten Offizierdienstgrad (Sekonde-Lieutenant) befördert worden war, wegen seiner Blessuren als „Ganzinvalide“ mit einer monatlichen Pension von zehn Talern aus der Armee ausscheiden. Johann Konrad Adenauers tapferes Verhalten in der Schlacht von Königgrätz fand immerhin Würdigung in der Regi mentsgeschichte, die Behauptung aber, dass der Vater des späteren ersten Kanzlers der deutschen Westrepublik im Kampf eine österreichische Fahne erbeutet haben soll, erwies sich als aus der Luft gegriffen.3 Hätte sich aber der Feldwebel Johann Konrad Adenauer im Jahre 1866 je träumen lassen, dass einer seiner Söhne einmal in einer unvorhersehbar fernen Zukunft zum Nachlassverwalter jenes Reiches werden würde, an dessen Entstehung er bei Königgrätz als Soldat mitgewirkt hatte?

      83 Jahre und eine ganze Epoche später war der auf dem böhmischen Schlachtfeld gegründete preußisch-deutsche Machtstaat schon wieder Geschichte und der jüngste Sohn des Veteranen von Königgrätz freute sich als Regierungschef des soeben konstituierten westdeutschen Teilstaates geradezu diebisch, dass er anlässlich der Vorstellung seines ersten Kabinetts vor der Alliierten Hohen Kommission am 21. September 1949 auf dem Bonner Petersberg den roten Teppich hatte betreten können, ohne von den argwöhnischen Kommissaren zurechtgewiesen worden zu sein.4

      Adenauers Gefallen an kleinen Unbotmäßigkeiten gegenüber den Vertretern der Alliierten erinnerte in gewisser Weise auch an Bismarcks lustvoll provokantes Verhalten gegenüber den Vertretern Österreichs während seiner Zeit als preußischer Gesandter am Frankfurter Bundestag. Deutschland oder das, was nach dem Ende der Hitlerdiktatur davon übrig geblieben war, schien nun endgültig auf ein verträgliches Maß zurechtgestutzt. Westorientierung und die Beschränkung nationaler Souveränität durch Einbindung in europäische oder transatlantische Institutionen waren der neue Königsweg des vorerst noch fragilen Adenauerstaates. Das 1866 von Bismarck durch „Blut und Eisen“ begründete Reich, Europa in einer Stunde der Unaufmerksamkeit abgetrotzt, erschien einer nachwachsenden Generation deutscher Historiker bald schon nicht mehr als historische Ausnahmeleistung. Plötzlich war das Werk des „Eisernen Kanzlers“ zu einer nationalen Verirrung mutiert, zum fatalen Beginn eines deutschen Sonderweges, der eine gedeihliche demokratische Entwicklung verhinderte und angeblich auch verantwortlich war für die kriegerischen Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

      Zu den prominentesten Vertreter dieser Richtung zählte wohl der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler, der in seiner Geschichte des Deutschen Kaiserreichs von einem strukturellen Grundproblem des Bismarckstaates sprach. Vorindustrielle Machteliten hätten demnach die Bildung einer freiheitlichen Sozial- und Staatsverfassung verhindert und eine aggressiv auftrumpfende Außenpolitik begünstigt.5 „Von Bismarck zu Hitler“ lautete wiederum in den 1970er-Jahren der Titel einer gedankenreichen Studie des renommierten Publizisten Sebastian Haffner, in der von einer Geburtshypothek des Bismarckreiches gesprochen wird. Für seine Nachbarn war es zu mächtig, für sich allein aber zu schwach, um einer gegnerischen Koalition erfolgreich trotzen zu können, und daher stets zum Prävenire geneigt. Das autoritäre Kaiserreich schien Historikern wie Heinrich August Winkler geradezu als der Gegenentwurf zur politischen Kultur des „Westens“ mit ihren Bürgerrechten, ihrer Gewaltenteilung und ihrer Toleranz.

      Hatte also Bismarck 1866 die Büchse der Pandora geöffnet, um sämtliche Übel des Nationalismus in die Weltgeschichte zu entlassen? Historiker wie der Bismarckbiograf Lothar Gall oder Thomas Nipperdey haben dagegen immer darauf verwiesen, dass die Idee des Nationalstaates zu den wirkungsmächtigsten Kräften des 19. Jahrhunderts gezählt hatte. Eine in den 1850er-Jahren stark aufblühende Wirtschaft in Westdeutschland und Baden, in Berlin und Sachsen forderte geradezu die Vereinheitlichung von Maßen, Münzen und Tarifen in einem gemeinsamen Staat. Ökonomisch passte man schon längst nicht mehr zu Österreich, was der einflussreiche Staatssekretär im Handelsministerium, Rudolf Delbrück, dem preußischen Ministerpräsidenten im August 1864 unmissverständlich klarmachen musste, als dieser in der Zollfrage Zugeständnisse an Wien ernsthaft in Erwägung zog.6 Der Krieg von 1866 beschleunigte schließlich nur die unausweichliche Trennung vom Kaiserstaat.

      Gab es aber 1866 überhaupt noch realistische Alternativen zu einer kleindeutschen Lösung unter preußischer Führung? Etwa eine Fortentwicklung des Deutschen Bundes mit seinen föderalen Strukturen unter Beibehaltung des preußisch-österreichischen Dualismus? War nicht gerade dieser Bund, dieser schale Aufguss des 1806 aufgelösten alten Reiches, längst zu einem Gebilde erstarrt, das immer noch die Kräfteverhältnisse von 1815 zu zementieren versuchte und das ein halbes Jahrhundert lang vielen Patrioten nur als Symbol engstirniger Kleinstaaterei und politischer Unterdrückung gegolten hatte? Nirgendwo löste die föderale Perspektive besonderen Enthusiasmus aus, ja eine deutsche Föderation wäre im Kontext der Nationalismen des 19. Jahrhunderts erst wirklich ein deutscher Sonderweg gewesen, da selbst Italien unter erheblich ungünstigeren Vorzeichen seine nationale Einheit anstrebte und die Gründung der Società nazionale im Jahre 1857 sogar Vorbild für den Deutschen