Ilka Silbermann

Am Himmelreich ist die Hölle los


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      Rolf atmete erleichtert auf. Was ja nicht möglich war, aber zumindest hatte er diesen Eindruck.

      Schneller als gedacht, richtete sich Gerda auf, blieb aber noch in einer sitzenden Position.

      „Vorhin“, begann sie übergangslos, „als ich in den Spiegel sah – weißt du noch?“

      „Ja, sicher!“

      „Da war etwas sehr Merkwürdiges!“ Gerda sah Rolf an und überlegte, wie sie ihm es am besten beibringen könnte.

      „Schieß los! Spann mich nicht so auf die Folter. Was war so merkwürdig?“

      „Meine Eltern waren da drin und winkten mir zu!“

      „Was?“

      „Ja, meine verstorbenen Eltern waren im Spiegel und, hinter ihnen nur schemenhaft zu sehen, die ganze Verwandtschaft, glaub ich. So schnell konnte ich sie nicht erkennen.“

      „Ist ja ein Ding. Und sie winkten dir zu?“

      „Ja. Ich war ganz schön erschrocken, kann ich dir sagen. Danach fühlte ich mich noch schwächer.“

      Rolf sah den Stuhl an und versuchte sich zu setzen. Auch ihn übermannte nun eine eigenartige Schwäche.

      „Wie hast du das gemacht, dass du liegen konntest?“, fragte Rolf und ließ den Stuhl nicht aus den Augen.

      „Ich habe es mir ganz doll gewünscht und mich an die Zeiten damals erinnert, wie es sich anfühlte, wenn ich mich hingelegt hatte.“

      „Okay, ich probiere es.“ Es dauerte einen Augenblick, und dann nahm Gerda ihn sitzend auf dem Stuhl ihr gegenüber wahr.

      „Toll!“, rief sie. „Es funktioniert.“

      „Ja, das brauchte ich aber auch gerade. Deine Nachricht ist irgendwie umwerfend. Wenn man bedenkt, dass wir schon vier Jahre tot sind und in dieser Zeit noch nie Kontakt zu anderen Verstorbenen hatten. Wir hatten uns schon damit abgefunden, dass wir beide hier alleine sind. Jetzt das.“ Rolf schien seinen Kopf in seine Hände zu stützen. Dann richtete er sich wieder auf. „Was hast du noch gesehen? Waren sie einfach nur da und winkten dir zu?“

      Gerda schien zu überlegen und sich die Situation noch einmal vor „Augen“ zu führen. „Ich blickte in den Spiegel, weil du sagtest, ich sehe so anders aus. Ein Reflex aus alten Zeiten, denn ich habe mich in diesen Jahren noch nie im Spiegel sehen können. Auch diesmal nicht, aber da waren plötzlich meine Eltern. Es war, als würde ich durch ein Tor, oder nein, eher wie in einen Fernseher schauen und dort eine andere Welt sehen, die aber keine Formen drumherum hatte. Unweit waren meine Eltern zu sehen und weiter hinten eine Ansammlung von Menschen, die ich nur schemenhaft wahrnahm, wusste aber, dass sie meine Verwandten waren. Meine Eltern konnte ich dagegen deutlich sehen. Sie lächelten mir freudig entgegen und winkten. Ja, sie freuten sich aufrichtig, mich zu sehen. Dabei haben sie sich im wahren Leben immer viel Sorgen um mich gemacht und haben mich nie verstanden. Wie du weißt, hatten wir oft Meinungsverschiedenheiten. Aber nun war so viel Liebe in ihnen.“

      Gerda richtete sich auf und schwang ihre Beine, die jetzt wieder deutlicher wahrnehmbar waren, zu Boden. Es schien, als sei ihre Energie zurückgekehrt.

      Rolf sah ein wenig verwirrt aus. Er wusste noch nichts damit anzufangen. Welche andere Welt gab es da noch?

      In diesen Jahren hatten sie sich nie diese Frage gestellt. Sie waren nur verwundert, dass sie offenbar als Geister an das Haus gebunden waren. Ganz anders, als sie sich jemals den Tod vorgestellt hatten. Als sie sich daran gewöhnten und sich ganz offensichtlich keine Veränderung einstellte, weder ein Engel auftauchte noch irgendwo ein helles Licht zu sehen war, dem sie hätten folgen können, fanden sie sich mit dieser Situation ab.

      Gerda begab sich tatendurstig und furchtlos erneut vor dem Spiegel. Doch außer dem Spiegelbild der Wohnung war nichts Weiteres zu sehen.

      „Nichts! Rolf, gar nichts. Aber ich habe mir das doch nicht eingebildet.“

      ***

      Sabrina war gerade dabei, ihrer besten Freundin Janna eine Textnachricht zu tippen, als sich die Tür öffnete und Mark hindurchlugte.

      „Stör ich?“

      Orko sprang freudig wedelnd auf, rannte zu ihm und stupste die Tür mit der Schnauze vollends auf. Dann warf er sich ihm praktisch in die Arme.

      Fast wäre Mark gestrauchelt. „Ho ho, nicht so stürmisch, Alter!“ Doch sein Gesicht strahlte. In der Tiefe seiner Seele hatte er sich schon immer so einen ergebenen Freund gewünscht.

      Seine Eltern, obwohl sie ein Häuschen am Stadtrand besaßen, hielten nichts von Haustieren. Der einzige Versuch, ihm einen Hamster zu schenken, endete sehr rasch, als die Eltern bemerkten, dass er mit ihm nichts anfangen konnte. Wenn man sich einen Hund wünscht, ist ein Hamster ein ungeeigneter Ersatz. Doch sie sahen darin den Beweis des mangelnden Verantwortungsgefühls und setzten sich durch.

      Seine Freizeitaktivitäten gestalteten sie ihm aber so interessant, dass er schon bald nicht mehr an einen Hund dachte.

      Sabrina schaute verwirrt auf und fragte: „Entschuldige, was sagtest du?“

      „Stör ich?“

      „Nein, überhaupt nicht. Ich kann auch später meiner Freundin schreiben. – Was gibt es?“

      „Freundin oder Freund?“, fragte Mark interessiert.

      „Freundin! Wenn du es genau wissen willst, hatte ich keinen Freund mehr, seit …“ Sie schluckte, und ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Doch dann fuhr sie forsch weiter: „… seit etwa vier Jahren.“

      „Vier Jahre? Du lieber Himmel, dann musst du ja ausgehungert … äh, sorry. Hat dir denn nie ein Freund gefehlt?“

      „Du meinst Sex? Dazu braucht man doch keinen festen Freund.“ Sabrina gab sich sehr cool. Sie hatte bereits zu viel gesagt. Er sollte nicht denken, dass sie keine Gelegenheit dazu gehabt hätte. – Na ja, hatte sie auch nicht, oder besser gesagt, diejenigen, die sich dazu anboten … Oh nein. Auf keinen Fall! Doch das würde sie ihm nicht auf die Nase binden.

      „Also, was wolltest du eigentlich?“, lenkte sie ihn von seinem prüfenden Blick ab.

      „Könnte ich wohl so um drei Uhr Mittagessen bekommen? Ich möchte gerne nach Bensersiel fahren, am Strand ein wenig spazieren gehen und Nordseeluft schnuppern.“

      Sabrina warf einen Blick auf die alte Küchenuhr an der Wand und machte sich blitzartig Gedanken über das mögliche Menü. Wenn sie sich beeilte, könnte sie noch schnell etwas einkaufen fahren. „Was schwebt dir denn so vor?“

      „Egal, ich lass mich von deiner Hausmannskost überraschen“, antwortete Mark erleichtert und fügte hinzu: „Prima, ich freu mich. Dann bis später.“ Er tätschelte Orko über den Kopf und verließ die Küche.

      Sabrina löschte den bisher geschriebenen Text an Janna. Der Austausch musste warten. Sie schnappte sich ihre Jacke, das Portemonnaie und lief zum Schuppen. Zeitgleich hörte sie vor dem Haus den Motor starten und das Auto abfahren.

      Sie öffnete die Tür und rief: „Mist, das Rad ist mit dem Russen unterwegs.“ Sie schaltete das Licht ein und ging weiter hinein. Dort standen noch zwei Räder, die schon lange nicht mehr von Feriengästen benutzt worden waren. Die meisten brachten ihre eigenen Fahrräder mit. Immer häufiger sogar E-Bikes. Von Spinnweben und Staub bedeckt blieb die Farbe des Rahmens zunächst ein Rätsel. Mit spitzen Fingern zog Sabrina das erste Rad ein wenig hervor.

      „Platten! Das war ja zu erwarten! So ein verdammter Mist“, schimpfte sie laut und trampelte mit den Füßen auf der Stelle herum, während Orko in den Ecken herumschnüffelte.

      „Riechst du was?“, wandte sie sich an ihren Begleiter. Jetzt fehlte nur noch, dass er eine Ratte aufschrecken würde. Sie schüttelte sich bei der Vorstellung.

      „Komm schnell!“ Rasch schloss sie die Tür und ging zurück in die Küche.