Im Schuppen sind Fahrräder. Dürfen wir sie uns ausleihen? Wir zahlen.“
Im Nu legte er einen Zwanzig-Euro-Schein auf die Arbeitsplatte neben der Tür.
Vor lauter Überraschung war Sabrina zunächst sprachlos. So nickte sie nur.
Augenblicklich verschwand der Fremde. Es hatte eindeutig etwas Unheimliches.
Verwundert sah sie auf die geschlossene Tür, stand auf, nahm den Zwanzig-Euro-Schein an sich und betrachtete ihn fast bewundernd.
Ein schöner Schein, dachte sie. Er fühlte sich wie frisch gedruckt an – so glatt und fest. Augenblicklich erfüllte sie Freude, die das Gefühl der Beklemmung vertrieb. Der kam nun wirklich gerade recht. Es herrschte Ebbe in ihrem Portemonnaie.
Die Ferienwohnungen warteten alle auf Gäste, bis auf die soeben vergebene. Erst in einem Monat begann ihr Saisonjob in Bensersiel. Das Arbeitsüberbrückungsgeld reichte vorn und hinten nicht. Ihre Reserven, die sie eigentlich für überraschende Reparaturmaßnahmen hütete, gingen zur Neige.
Gut, dass ihre drei Hühner gerade wieder anfingen zu legen. Da gab es zumindest mal ein Ei.
***
„Was für eine Frechheit!“, erboste sich Gerda. „Hast du das mitbekommen? – Rolf!“, rief sie ungeduldig.
„Ja, natürlich“, murrte ihr Angetrauter.
„Das gefällt mir gar nicht. Scheint hier herumzuschleichen und sich alles ganz genau anzusehen. Geht ungefragt in den Schuppen – und dringt durch den Hintereingang ins Haus ein –, das gefällt mir gar nicht“, wiederholte sie sich.
„Das sehe ich genauso! Was machen wir jetzt?“
Gerda überlegte einen kurzen Augenblick: „Komm, wir sehen uns die beiden einmal genauer an.“
Draußen machten sich derweil die beiden Männer auf dem großflächigen Hof an den Rädern zu schaffen.
Sie prüften den Luftdruck der Reifen, die Funktionsfähigkeit der Bremsen, sogar die Beleuchtung. Schließlich stellten sie die Sattelhöhe ein. Werkzeug fanden sie bei den alten Rädern in der kleinen Tasche unterhalb des Sattels. Sogar Flickzeug befand sich darin. Also alles vorschriftsmäßig.
Der Ältere schien zufrieden. Blickte auf sein Smartphone, das ihm offensichtlich als Navigationshilfe diente, gab einen knappen Befehl, und beide stiegen auf, wobei der Jüngere mit dem Damenfahrrad vorliebnehmen musste.
Er schaute nicht begeistert, doch sein Vordermann rief ihm etwas zu, das seinen Gesichtsausdruck aufhellte.
„Hast du verstanden, was sie gesagt haben?“, fragte Gerda ihren Mann, als die beiden den Hof verlassen hatten.
„Nicht ein Wort“, entgegnete er achselzuckend. „Nur, dass der Ältere scheinbar Iwan heißt und der Kleine Anton.“
„Oje! Iwan, der Schreckliche!“ Gerda schaute ganz unglücklich drein. „Genau diesen Eindruck macht er auch. – Ich sag dir, da stimmt was nicht! Ich wüsste zu gerne, was sie vorhaben.“
***
Kurzes Klopfen an der Küchentür, und wieder schob sich der Kopf des Älteren durch den Türspalt.
Erschrocken guckte Sabrina hoch. Diesmal würde sie sich zur Wehr setzen. Orko war schon aufgesprungen und rannte wütend bellend zur Tür, die flugs und geräuschvoll geschlossen wurde.
„Halten Sie die verdammte Töle zurück!“, klang es dumpf durch die Tür.
Sabrina gefiel dieses ungehobelte Verhalten überhaupt nicht, doch was sollte sie machen? „Orko, komm!“, befahl sie ihrem Beschützer. „Orko!“ Sie wurde streng. Widerwillig gehorchte der Hund. „Sitz!“, befahl sie ihm. Und dann: „Bleib!“
Sie ging zur Tür und öffnete sie. „Hören Sie mal, so geht das nicht!“
„Der Hund ist ja lebensgefährlich!“, fiel ihr der Angesprochene ins Wort.
„Er beschützt mich bloß. Das ist seine Aufgabe“, erwiderte Sabrina streng. „Sie müssen schon meine Privatsphäre respektieren, Herr, Herr … Wie heißen Sie eigentlich?“
„Nennen Sie mich Igor. Einfach Igor!“ Er versuchte sich versöhnlicher zu zeigen. „Das kann ich verstehen. Leben Sie alleine?“
Sabrina wurde vorsichtig. „Was wollen Sie von mir?“
„Essen!“
Sie hob verdutzt die Augenbrauen, wandte sich kurz um und schaute zu ihrem Teller Haferbrei auf dem Tisch, ihrem Abendessen, und dann wieder zu Igor.
„Wir zahlen!“
„Ja, ja!“ Sabrina wurde ungeduldig. Gleichzeitig war es ihr peinlich, dass man möglicherweise sehen konnte, dass sie praktisch nichts im Haus hatte.
„Das nützt jetzt gar nichts! Darauf bin ich nicht vorbereitet. Ich vermiete Ferienwohnungen. Das bedeutet, dass Sie sich selbst verpflegen müssen. Sie können nach Bensersiel oder Esens fahren und dort zu Abend essen.“
Der Mann griff in seine Hosentasche, zog ein dickes Bündel Geldscheine heraus, fingerte daraus vier Fünfzig-Euro-Scheine und drückte sie ihr in die Hand.
Als er ihre Hand nahm, sprang Orko auf und begann zu knurren.
„Ruhig, Orko!“, befahl Sabrina sofort.
„Er … – wirklich wachsam. Sie kaufen morgen in der Frühe ein. Wir brauchen nicht viel zum Frühstück. Kaffee und Ei. Neun Uhr Frühstück. Mittags brauchen wir nichts, dafür abends kochen und Bier und Wodka, eisgekühlt. Das Geld müsste reichen. Wenn Sie mehr brauchen – sagen.“ Diesmal bemühte er sich, seine Stimme vertrauenerweckend klingen zu lassen.
„Augenblick!“, rief Sabrina ihm hinterher, als sie sich von der Überraschung erholt hatte.
Er drehte sich im Flur noch einmal zu ihr um.
„Wie lange bleiben Sie denn?“ Sabrina überlegte, wie viele Mahlzeiten sie wohl bereiten musste. Vielleicht blieb ein wenig von dem Geld für sie übrig.
„Weiß nicht. Wird man sehen.“ Und schon stapfte er zur Hintertür hinaus.
Sie starrte auf die geschlossene Tür, dann rief sie Orko und ließ ihn noch einmal zum Garten hinaus, damit er sein Geschäft erledigen konnte. Heute würde ihr Rundgang ausfallen. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit schloss sie diesmal anschließend sehr sorgfältig die Türen ab.
Zurück in der Küche, nahm sie die Scheine wieder in die Hand, um sie in ihrer Börse zu verstauen.
Prüfend glitten ihre Finger über das Papier. Merkwürdig, auch dieses Geld fühlte sich fest und neu an. Sie bekam eher selten am Bankautomaten frisch gedruckte Scheine. Woher hatten sie denn so viele davon?
***
„Das wird immer unheimlicher!“ Gerda bewegte sich hin und her. „Rolf! Nun sag du doch mal was dazu. Ist dir nichts aufgefallen?“
„Was sollte mir aufgefallen sein? Dass sie Wodka trinken, dürfte für Russen normal sein. Ich nehme mal an, dass sie Russen sind, bei den Vornamen.“
„Na eben! Die Vornamen!!!“
„Was meinst du?“
„Igor! Er sagte, sie solle Igor zu ihm sagen.“
„Ja und? Ist doch heutzutage üblich, dass man sich mit Vornamen anspricht. Haben wir doch auch in unseren wilden Zeiten gemacht, weißt du noch?“ Rolf verdrehte schwärmerisch die Augen. „Make love, not war! Unser Motto in den Sechzigern!“
„Du bist vielleicht begriffsstutzig! Er heißt doch Iwan, hast du vorhin gesagt. Iwan, der Schreckliche. Doch bei Sabrina gibt er sich als Igor aus.“
„Iwan – Igor! Ist doch ähnlich. Vielleicht hab ich mich heute Nachmittag verhört.“