Ilka Silbermann

Am Himmelreich ist die Hölle los


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      Das Wasser hatte augenblicklich ringsherum eine bedrohliche Ausstrahlung angenommen. Das kristallklare Smaragdgrün hatte sich in undurchsichtiges Dunkelgrau verwandelt. Das Boot wurde durch die entgegenkommenden Wellen emporgehoben, so dass der Außenborder auf deren Kamm ins Leere drehte, um dann mit einem Klatschen wieder auf der Wasseroberfläche zu landen. Gischt spritzte ihnen entgegen und durchnässte sie.

      „Halt dich gut fest!“, versuchte Rolf den Sturm zu übertönen. Unaufhaltsam rückten die Wolken wie eine Wand immer näher, während das gewaltige Tosen der Wellen das Boot wie eine lächerliche Nussschale behandelte. Weit oben durchzuckte ein Blitz den Himmel.

      „Scheiße, Rolf! Gewitter!“, schrie Gerda. Um sie herum türmten sich die Wassermassen auf und der Strand war nur noch von den Gipfeln der Wellen aus zu sehen.

      Rolf als erfahrener Bootsmann schaffte es, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, und steuerte stetig darauf zu.

      „Sollen wir nicht lieber vorher an Land gehen?“, rief Gerda und blickte Rolf ängstlich an.

      „Geht nicht! Da sind überall große Steine im Meer“, schrie Rolf zurück und behielt eisern den Kurs.

      Die nächste Welle brachte Gerda zu Fall. Hilflos lag sie zu Rolfs Füßen.

      „Bleib liegen und halte dich da unten fest!“, befahl Rolf, der breitbeinig versuchte, das Schaukeln auszugleichen. Das Ruder hielt er mit beiden Händen fest umklammert.

      Im nächsten Moment brach der Regen über sie herein. Ein tropischer Guss, der Massen an Wasser mit sich führte.

      Gerda lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden, als sich das Geräusch des Motors veränderte. Rolf drehte offensichtlich bei, die Wellen dienten jetzt als Beschleuniger und kurze Zeit später knirschte Sand unter dem Boden. Rolf schaltete den Motor aus und sprang auf den Strand. Kräftig zog er das Boot an Land.

      „Kannst du aufstehen oder hast du dich verletzt?“, rief er.

      „Ich komme.“ Mit wackeligen Beinen erhob sich Gerda, und Rolf streckte ihr die Hand entgegen. Sie kletterte aus dem Boot, und beide lagen sich in den Armen, während der Regen unablässig auf sie herniederprasselte.

      „Wir haben es geschafft!“, jubelte sie. Rolf ließ sie nicht mehr los. „Komm! Wir müssen hier verschwinden.“

      Hand in Hand rannten sie in Richtung Unterkunft, als plötzlich ein greller Blitz in den Boden einschlug, der mit seinem gleichzeitigen Donner das Ende verkündete – ihr Lebensende.

      ***

      Zurück in der Gegenwart

      Gerda und Rolf waren wie erstarrt, als Iwan den Duschvorhang zur Seite riss. Er lachte erleichtert auf, und während er mit Anton sprach, gestikulierte er übertrieben mit den Händen. Beim Verlassen des Bades klatschte er dem Jüngeren noch auf den Rücken.

      „Na, das ist ja noch mal gut gegangen!“

      Gerda und Rolf befanden sich mittlerweile in der Küche und gingen dort in sicherer Entfernung das Erlebte noch einmal durch.

      „Ich war auch ganz schön erschrocken!“, erwiderte Gerda. „Irgendwie hab ich mich noch immer nicht daran gewöhnt, dass wir nicht gesehen werden.“

      „Wir haben ja auch noch nie jemanden absichtlich beobachtet. Das ist neu für uns.“ Rolf blickte seine Frau erleichtert an.

      „Aber irgendwie war es schon komisch.“ Gerda schien nachdenklich. „Ob Anton uns doch wahrgenommen hat? Warum hat er sonst Iwan gerufen? Der hat sogar tatsächlich hinterm Vorhang nachgesehen, wo wir uns aufgehalten haben.“

      Seitdem sie beide, Rolf und Gerda, gemeinsam vor vier Jahren abrupt aus dem Leben gerissen worden waren, hielten sie sich in ihrem Haus und auf dem Grundstück auf, das nun ihre Tochter weiterführte.

      So hatten sie sich ihren Tod eigentlich nicht vorgestellt.

      Rolf hatte sowieso nie an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Für ihn war dieser Zustand genauso eine Überraschung wie für Gerda.

      Sie dagegen war zu Lebzeiten davon überzeugt gewesen, dass sie im Augenblick des Sterbens durch einen Tunnel ins Licht gelangen würde. Dort würde sie auf ihre Ahnen stoßen, verstorbene Freunde treffen und sogar ihren Lieblingshund aus der Kindheit. Lichtwesen, die sie Engel nannte, würden sie an die Hand nehmen und begleiten.

      Doch nichts von alledem war eingetroffen.

      Und nicht nur das! Sie waren allein. Zwar waren sie noch immer zusammen, aber sonst gab es in ihrer Umgebung niemanden, mit dem sie sich hätten austauschen können.

      So blieben sie im Haus und begleiteten ihre Tochter tagtäglich rund um die Uhr. Schlaf war nicht mehr nötig. Wären sie nicht zu zweit, wäre dieses Leben, ach nein, war ja kein Leben mehr, also dieser Zustand öde und langweilig. Immerhin konnten sie auf diese Weise ihrer Tochter noch nahe sein und an ihrem Alltag teilhaben.

      ***

      Mark ließ sich im siebten Stock seiner Hamburger Wohnung mit Blick auf die Elbphilharmonie auf den Designerstuhl fallen und vergrub den Kopf in seine Hände, die Ellenbogen auf den teuren Glastisch gestützt.

      Doch im nächsten Augenblick öffnete er die Augen, sprang wie von einer Tarantel gestochen auf und warf voller Zorn den Tisch um, dessen Sicherheitsglas leider nicht zerbrach, so wie er es sich wünschte.

      Dieser Tisch war ihm schon die ganze Zeit über ein Gräuel gewesen. Olga zuliebe hatte er ihn gekauft, genauso wie die blitzhässlichen, aber dafür sauteuren Stühle. Die ganze Wohnung hatte sie umgekrempelt, als sie bei ihm einzog. Ganz geschickt und in Nullkommanichts. Er hatte ihren Schmeicheleien einfach nicht widerstehen können. Sie hatte es verstanden, ihre Reize geschickt einzusetzen. Ihn hinzuhalten und auszuhungern, bis er schließlich alles kaufte, was sie sich wünschte.

      Seine Freunde hatten nur verwundert den Kopf geschüttelt. Sie verstanden nicht, wie er, Mark Foster, der erfolgreiche Programmierer, sich so hatte ausnehmen lassen.

      Er verstand sich selbst auch nicht mehr. Tief in seiner Seele hatte er gewusst, dass sie ihn nur benutzte.

      Als er sie kennenlernte, fühlte er sich wie in einer Kinoszene mit Marilyn Monroe, nur dass sie nicht blond war. Ihre High Heels waren in einem Bodengitter steckengeblieben und ihr eng anliegendes kurzes Kleid erlaubte es ihr nicht, sich danach zu bücken. Er half ihr und mit ihrer melodischen dunklen Stimme und dem faszinierenden rollenden „R“ hatte sie ihn als ihren Retter geadelt und sich auf verführerische Weise zu bedanken gewusst. Zunächst mit einem Drink in einer Bar, dann mit einem Glas Champagner in seinem Bett.

      Nicht lange danach stand der Hochzeitstermin fest. Gerade rechtzeitig, bevor sie das Land hätte verlassen müssen. Was für andere ganz offensichtlich war, davor verschloss er die Augen.

      Olga war für ihn eine Fleisch gewordene Göttin. Eine russische Göttin. Gab es so etwas überhaupt? Egal, für ihn schon. Ein hinreißendes Geschöpf. Volles, lockiges, langes schwarzes Haar umgab ein zartes Gesicht mit hellem Teint und dunklen, glutvollen Augen. Ein Blick genügte, und sie hatte ihn in ihren Fängen, die ihn nicht mehr losließen. Ihr rollender Akzent intensivierte den Klang ihrer Stimme, die mal verführerisch sanft, mal strafend-fordernd klang. Teufel und Engel in einer Person. Dazu ihre perfekte Figur mit den geschmeidigen Bewegungen. Keine andere Frau hätte sich mit ihr messen können. Sie zog ihn in ihren Bann. Mit Haut und Haaren. Bis er ihr schließlich hörig war.

      Hörig – darüber hatte er sich bei anderen lustig gemacht, es als idiotische Schwäche bezeichnet. Nun hatte ihm das Schicksal wohl gezeigt, dass man andere nicht verspotten sollte. Denn ihm war jetzt das Gleiche passiert.

      Doch er hatte die Kurve gekriegt, gerade noch rechtzeitig, und sie rausgeschmissen. Na ja, eine gnädige Fügung hatte ihm dazu verholfen. Er konnte seinem Schöpfer auf Knien dafür danken, dass ihm das geschehen war.

      Eigentlich der Klassiker.

      ***