hätte, wäre ihr die Bewegung auf dem vorletzten Schiff flussabwärts entgangen. Da erschien eindeutig ein Kopf in der Luke, dann schob sich der restliche Körper heraus.
„Donar steh uns bei, es beginnt“, hauchte sie. „Merdin, ich hab Angst. Ganz schreckliche, schreckliche Angst. Diese armen Maiden, in welcher Verfassung werden wir sie vorfinden? Wie zerrüttet werden sie sein, körperlich wie geistig, nach all der Zeit?“ Sie verschränkte ihre Finger mit seinen und holte zittrig Luft. „Und da ist noch etwas … Ich würde was drum geben, wenn ich nicht töten müsste. Ich hab doch noch nie in echt …“
„Ganz ruhig, Vivian. Denk jetzt nicht daran. Wir wollen die Maiden befreien und das werden wir tun. Deine List wird gelingen. Und falls es Komplikationen gibt … Wir können blitzschnell denken, kämpfen und improvisieren. Vielleicht kommt es nicht mal zum Kampf. Wenn doch, hältst du dich einfach raus. Mit den paar Seemännern werden wir allemal fertig, keine Bange.“
Viviane fühlte seinen starken Händedruck und atmete gleich viel ruhiger.
„Bei allen Göttern, deinen und meinen, was bin ich froh, gerade dich an meiner Seite zu haben, mein teuerster Bruder.“
Sie schenkte ihm ein liebevolles Lächeln und schaute ihm tief in die Augen. Am liebsten hätte sie sich darin verloren, in diesem himmlisch strahlenden Blau, doch etwas hinderte sie daran. Sie wusste nicht genau, was es war oder wie sie es benennen sollte … sie zwang sich, wegzusehen.
Seufzend starrte sie das Flussufer entlang zum vorletzten Schiff. An Deck redete gerade ein Seefahrer recht überschwänglich auf die beiden Römer ein, während sich Letztere die Kleider richteten. Besonderen Wert schienen sie auf den Faltenwurf ihrer Togen zu legen, sie zupften und begutachteten, zupften und begutachteten … Vom Ausfertigen irgendwelcher Dokumente konnten doch weder Toga noch Tunika derart verrutschen.
Prompt kroch Viviane ein Schauder über den Rücken und es wurde ihr mächtig flau im Magen. Doch es war nicht Angst, die sie erbleichen ließ, es war auch nicht Mitleid für diese armen Frauen dort auf dem Schiff. Sie wusste nicht einmal genau, ob es überhaupt ein Gefühl war, was sie da wahrnahm. Es fühlte sich eher wie ein Ding an, für das sie noch keinen Namen hatte.
Es wand sich in ihren Eingeweiden, streckte sich und dehnte sich, wälzte sich in ihrem Blut und kreischte: ‚Ich will mehr Blut! Viel mehr Blut! Lass mich raus! Ich will kämpfen! Ich will töten! Ich will siegen!‘ Dabei wollte sie doch gar nicht töten. Selbstverständlich wollte sie siegen und um das zu erreichen, musste sie höchstwahrscheinlich kämpfen. Aber am liebsten hätte sie auf Letzteres verzichtet, und töten … nein, das wollte sie erst recht nicht. Nicht nur aus Gnade für ihre Gegner, sondern auch weil das Ding in ihr, dieses blutgierige Biest, sonst noch stärker geworden wäre. Womöglich wuchs es aus ihr heraus und machte sich selbstständig. Wo blieb dann die gute, freundliche Viviane mit all ihrem Mitgefühl? Andererseits hatte sie stets und ständig diese jungen Maiden vor Augen, sah sie zusammengedrängt und schwach, gepeinigt, geschändet, gefoltert. Was nützte diesen hilflosen Wesen ihr Mitleid? Wäre nicht eine Viviane, die nur aus Zorn und Hass und Blutgier bestand, genau das Richtige für sie? ‚Ja! Lass mich kämpfen! Lass mich töten! Lass mich raus!‘
Genau deshalb hatte sie das Schiff bis jetzt nur einmal, bei ihrer Ankunft, angesehen und dann nicht wieder. Dieses Chaos tief in ihr drinnen war schlichtweg nicht auszuhalten gewesen. Wer wollte schon einen Kampf gegen sich selbst ausstehen, ihr Mitgefühl gegen das Ding ohne Namen? Wer würde diesen Kampf für sich entscheiden? Sie hatte alles betrachtet, bloß nicht dieses vorletzte Schiff. Sie wollte sich nicht vorstellen, was dort gerade mit den gefangenen Frauen passierte.
Wie lange waren sie jetzt auf diesem Schiff? Wie oft hatte dieses Schiff schon irgendwo vor Anker gelegen? Immer mit ähnlicher Fracht? Und wenn ja, was taten die Seefahrer wohl mit so vielen Frauen, bis sie irgendwann im Zielhafen ankamen – weit, weit über dem Meer, wo ihr Handelsgut zum nächsten Sklavenmarkt verfrachtet wurde? Was nützte es den Frauen dort auf diesem vorletzten Schiff, wenn sie, Viviane, die Ärztin und Drachenkriegerin, wie gelähmt war vor lauter Angst vor sich selbst?
„Schau, Vivian, sie laufen die Planke runter, genau wie uns die Wirtin beschrieben hat. Der eine schwankt, als würde er gleich umfallen und ist so dünn wie eine Bohne. Der andere trippelt auf kurzen Beinchen und ist so dick wie ein Kohlkopf.“
„Oh ja, sehr interessant. Bohne hat eine grüne Tunika und Haare so wirr wie Bohnenkraut. Kohlkopf trägt eine zartgrüne Tunika und sein Schädel ist kahl. Die Namen passen perfekt.“ Aus schmalen Augen beobachtete Viviane die Römer, die am Flussufer verharrten und majestätisch zu dem Seefahrer hinaufwinkten. Am liebsten hätte sie mit Pfeil und Bogen auf die drei angelegt. Vergiftete Blasrohrpfeile wären auch gut geflogen oder ein paar Schleudersteine. Oder sie hätte vom Dach springen und ihnen entgegenstürmen können mit dem Schwert in der Hand, mit zwei Schwertern, mit der Axt, mit bloßen Händen … alles wäre richtig gewesen, alles zusammen.
Die Vorstellung war allzu verlockend, und sie war froh, wieder Merdins starken Händedruck zu spüren. Er hegte ähnliche Gedanken, das wusste sie, auch wenn er nichts sagte, und plötzlich war es ihr wichtig zu trällern: „Komm, mein teuerster Bruder, runter zur Caupona, wir wollen unsere Schiffspassagen in Empfang nehmen!“ Schon eilte sie Merdin voraus über die Dachterrasse und die Treppe hinunter. Sie wurde immer schneller, bis sie durch eine schmale Tür in das hintere Ende des Speiseraums preschte. Nun rannte sie fast vorbei an Tischen und Korbstühlen und der ewig langen Theke, bis diese einen Knick nach rechts machte und auslief. Dort, am Eingang, an der Schmalseite der Caupona, stand die Wirtin mit ihrem ältesten Sohn hinter der Theke. Sie stellten gerade ein neues Fass Wein auf, hielten aber sofort inne, als Viviane und Merdin um die Ecke bogen.
Beim Anblick ihrer grimmigen Mienen wusste die Wirtin sofort Bescheid. Sie schickte ihren Sohn fort, um den anderen Drachenkriegern Meldung zu machen. Dann schlug sie, wie mit Viviane verabredet, ein paar Eier auf. Rasch trennte sie Eigelb von Eiweiß, gab eine Prise Salz in Letzteres und langte hinter sich auf ein Regal, wo schon ein Zwiesel bereitlag. Dieser war letzten Winter aus der Spitze eines Tannenbaums gefertigt worden, mit eingekürzten Ästen und glatt geschnitzt. Wenn der Stiel geschickt zwischen den Handflächen gerieben wurde, verquirlten die kleinen Astenden alles Mögliche an Essbarem und Trinkbarem, ja, Soßen rührten sich fast von alleine sämig.
Bei der grimmigen Miene, mit der die Wirtin den Zwiesel zwischen den Handflächen rubbelte, hätte man allerdings etwas anderes im Krug vermutet als Eiweiß. Nun gut, es war nicht einfach nur Eiweiß. Es war eine Art Geheimwaffe, wenn sie auch weder erschrecken noch wehtun würde. Viviane wollte es anfangs gar nicht glauben, aber ihre Gastleute hatten ihr versichert: Mit Eischnee brächte man Eisberge zum Schmelzen, römische seien besonders empfänglich. Dann hatte die Wirtin eine Kostprobe zum Besten gegeben und gezeigt, was es noch zu beachten gab. Viviane hatte nur staunen können – zum einen über die Fingerfertigkeit und zum anderen über die Raffinesse dieser Druidin, die vom Alter her gut ihre Mutter hätte sein können.
Sie staunte auch jetzt darüber, wie das Eiweiß unter diesen fähigen Händen immer höher schäumte. Es war ein faszinierender Vorgang, doch sie wandte den Blick ab, ging zu Merdin, der unschlüssig an einem Tisch nahe dem Eingang stand, und schubste ihn auf einen dazugehörenden Korbstuhl. Sie brauchte nur den Finger zu heben, schon gähnte er und fläzte sich in eine gelangweilte Schräglage – als Erbe eines adligen römischen Ritters war er für langes Sitzen ohne Pferd unter sich nicht geschaffen.
Viviane war sehr zufrieden mit seiner Pose. Sie setzte sich auf den Stuhl neben Merdin, reckte den Hals, um zu prüfen, ob die Straße durch die offene Tür gut im Blick lag, und beschäftigte sich nun mit sich selbst.
Sie hatte jede Menge zu tun. Sie musste graziös dasitzen; sie musste das mordlustige, nach Blut kreischende Biest in ihrem Innern in ein wohlig schnurrendes Schmusekätzchen verwandeln; und sie musste sich auf zwei Frauenschänder freuen.
Wider Erwarten schaffte sie all das recht schnell, obwohl die freudige Erwartung mit der Zeit verging und einem leicht gereizten Mienenspiel Platz machte. Offenbar waren die Frauenschänder in einem früheren Leben als Schnecken unterwegs gewesen; es dauerte ewig, bis sie in Sicht kamen.
Der