Merdins Hand zuckte zurück. Er schaute wie ein gescholtenes Kind zu ihr hinüber. Diesmal konnte sie nicht darüber lachen. Ihr verschlug es den Atem, allen verschlug es den Atem bei dem Anblick, der sich ihnen nun bot.
Mit einem mächtigen Satz sprang ein riesiger Mann aus der Luke, stampfte zur Reling und schleuderte ein zappelndes, schmutziges Bündel weit über Bord. Noch im Flug klaffte das völlig verdreckte Tuch auseinander, winzige Beine strampelten sich frei, riesige blaue Augen suchten Halt, dünne Fingerchen griffen ins Leere …
Laut klatschte das Baby ins Wasser.
Die drei Frauen kreischten auf, brüllten, fluchten, schworen Rache … Viviane kannte kein Halten mehr. Tief hinter ihre Stute gebückt, riss sie sich die Kleider vom Leib.
Stola, Tunika, Haarnadeln, rosa Seidendahlie flogen ins Stroh. Sie schaute auf, lugte über Dinas Rücken. Der Riese hatte nichts bemerkt; mit mächtigen Schritten stampfte er wieder zurück über das Deck, den Blick stur auf die Luke gerichtet. Abrupt zuckte sein Kopf nach rechts, wo die Frauen in die Knie sanken und laut schluchzten. Doch das war es nicht, was seinen Blick auf sich gezogen hatte; es war Merdin. Merdin hatte den rechten Daumen gehoben - er hatte erkannt, was Viviane vorhatte, und schon glitt sie bäuchlings über die Reling -, doch der Riese bezog die Geste prompt auf sich. Er grinste breit, machte sogar eine kleine Verbeugung, als würde er sich geehrt fühlen, und hob ebenfalls den rechten Daumen. Dann stampfte er weiter über das Deck.
Viviane ließ sich am Schiffsrumpf hinab; die Finger fest an die Reling geklammert, hing sie da. Wo war das Baby? Sie schaute abwärts, sah nichts als trübes, brackiges Wasser, das langsam dahinfloss – kein Baby. Sie stieß sich mit dem linken Fuß ab, hing jetzt nur noch an der linken Hand. Sie reckte sich. Da war es! Dreißig Schritt entfernt, etwa mittig im Fluss, sah sie einen großen, hellen Fleck im Brackwasser treiben. Unter Wasser!
Viviane stieß sich ab und sprang.
Sie bemühte sich, so geräuschlos wie möglich einzutauchen, Füße voran, lang gestreckt; trotzdem konnte sie den kurzen Schlag beim Eintritt ins Wasser nicht verhindern. Unter Deck war es im Moment verdächtig still; die Seeleute gönnten sich garantiert ein paar Becher Wein, ließen sich womöglich noch von den Sklavinnen bedienen. Von dort drohte keine Gefahr, aber an Deck … Der Riese polterte wahrscheinlich gerade die Leiter hinab, ein lautes Platschen würde ihm bestimmt nicht verborgen bleiben. Und wenn schon. Merdin würde sich um ihn kümmern. Sie musste ein Kind retten.
Vivianes Kopf samt Rumpf schoss aus dem Wasser; hastig sah sie sich um, das Baby war weg, war längst schon weitergetrieben. Sie musste hinterher, musste mehr in die Mitte.
Ein Atemzug und sie warf sich kopfüber ins Trübe; unter Wasser war sie schneller. Mit kräftigen Stößen tauchte sie voran. Sie konnte lange die Luft anhalten, sie würde viel schneller sein als die Strömung. Sie musste das Baby einholen, doch sie fand es nicht.
Sie fand es einfach nicht. Viviane holte stärker aus, schaufelte das Wasser hinter sich; die Augen weit offen, sah sie nach oben, unten, rechts, links, gerade aus … Wo war das Baby? Es war schier zum Verzweifeln. Nichts war zu sehen außer Schlamm, Kieselsteine, Krebse, ab und an Fische; langsam kam ihr der Verdacht, sie würde es nie finden. In dieser trüben Brühe schien alles zu verschwinden – das Baby und auch ihre Hoffnung.
Es war sinnlos.
Eine jähe Trägheit ergriff von Viviane Besitz, lähmte ihre Glieder, erdrückte sie wie eine sanfte, warme Woge und schob sie rückwärts, statt vorwärts. Nein. Nein! Sie durfte nicht aufgeben, und das war auch keine Trägheit, die sie rückwärtsschob, das war warmes Wasser! Warmes, salziges Meerwasser! Die Flut hatte eingesetzt, klar und voller Fische! Hechte, Barsche, Grundeln, Forellen, Dorsche und mitten unter ihnen schwamm das Baby! Bei allen Göttern, da schwamm das Baby! Wie ein Fisch im Wasser! Es paddelte ihr entgegen, den Mund weit offen, selenruhig lächelnd und von der Flut getragen.
Viviane riss die Augen auf und ehe sie begriff, streckte sie die Arme aus und fing das Baby ab; die Fische zogen weiter.
Für einen Moment betrachteten sich die beiden, Viviane und das Kind, landeinwärts getragen von der Flut. Sie strahlten sich an, als wäre diese Zusammenkunft unter Wasser mitten im Fluss eine Art Verabredung, getroffen vor langer Zeit und nun eingehalten. Unendlich glücklich schob Viviane das Kind hinauf gen Wasseroberfläche und schon holten sie das nach, auf das sie offensichtlich beide recht lange verzichten konnten.
Viviane trat kräftig nach unten aus, hob das Baby an, prüfte seine Atmung und stellte verblüfft fest, dass es überhaupt kein Wasser geschluckt hatte, kein winziges bisschen. Natürlich wusste sie, dass Babys lange tauchen konnten, aber es war etwas völlig anderes, dieses Phänomen auf solch spektakuläre Art selbst zu erleben. Ein wahrhaft göttliches Ereignis, und jetzt lächelte dieses Kind sie auch noch an; fast hätte sie vergessen, warum sie beide überhaupt hier im Fluss waren. Sie spürte die vielen Fische an sich vorbeiziehen und wandte sich um Richtung Schiff. Der Weg bis dorthin war weit. Doch was waren schon ein paar Hundert Schritt, wenn man sich von der Flut tragen lassen konnte? Viviane zwinkerte dem Baby zu, legte es sicher auf ihre Brust und stieß sich rückwärts ab.
Die Frauen krümmten sich vor Schmerz, Wut und Trauer. Wehklagend streckten sie die Arme gen Himmel und flehten ihre Götter an, das Baby zu retten. Die Götter im Himmel, die Götter auf Erden, die Götter unter der Erde, im Wasser, im Wind … irgendeiner musste doch helfen können.
Merdin konnte es nicht mehr mit ansehen. Vorsichtig fasste er eine Frau an der Schulter, rüttelte sie ein wenig und beugte sich nah an ihr Ohr. Prompt hörte sie auf zu wimmern und Merdin nutzte seine Chance.
„Hilfe ist längst da“, flüsterte er hastig. „Seid still und gebt auf die Luke acht. Ich will keine neue Überraschung.“ Er drückte noch einmal ihre Schulter und ging.
Sofort herrschte Ruhe.
Verständnislos starrten sich die drei Frauen an, dann schauten sie Merdin hinterher, der hinüber zu den Pferden eilte. Er klopfte einmal kurz gegen eines der Wasserfässer und griff sich den Eimer daneben. Sorgsam prüfte er dessen Henkel, Knoten und Seil, schließlich beugte er sich über die Reling und ließ ihn langsam ab. Während er zusah, wie der Eimer geräuschlos am Schiffsrumpf hinabglitt, murmelte Merdin wie zu sich selbst: „Wenn ihr das gesehen hättet. Vivian hat es tatsächlich geschafft. Sieht gut aus, das Baby bewegt sich, es lacht sogar. Sachte nun. Sie muss den Schöpfeimer greifen, ausleeren und das Kleine hineinlegen. Gar nicht so einfach; jetzt fängt es auch noch an zu strampeln und holt mit seinen winzigen Fäusten aus. Bloß gut, dass die Tamesas hier schön behäbig dahingleitet; ja, die Flussgöttin meint es gut mit unserer Vivian. Oh weh, jetzt ist sie abgerutscht. Nein, keine Bange, nur der Eimer ist ihr entglitten, das Fischlein zappelt noch an ihrer Schulter. Nochmal, Vivian, pack den Eimer. Ja, gut. Leg den kleinen Zappler rein, ich zieh ihn hoch, keine Sorge. Was sagst du, Zoak? Das Fischlein ist genauso quirlig wie du? Na, zum Glück passt es in einen Eimer. Vielleicht hat es später mal Lust, in einem Wasserfass transportiert zu werden, aber bis dahin … Ruhe jetzt, Zoak, gleich hab ich’s, und ihr wartet auf mein Zeichen.
Erst das Baby, danach kümmern wir uns um den Rest.“
„Improvisieren ist prima“, gluckste Merdin und lugte in den Eimer. In diesem Moment fühlte er sich so glücklich, als hätte er die gesamte Rettungsaktion schon erfolgreich hinter sich und all seine Wünsche wären wahr geworden. Noch einmal schaute er auf Viviane hinunter, auf seine Vivian, die gemütlich Wasser trat und eine kurze scheuchende Handbewegung machte. Lachend gestikulierte er, sie wäre gleich die Nächste, und beugte sich aus ihrem Sichtfeld.
Vorsichtig stellte Merdin den Eimer ab, dann breitete er seinen Mantel auf dem Stroh aus, zerrte seine Tunika über den Kopf und legte sie fürsorglich auf den Mantel. Nun erst hob er das wild strampelnde Baby aus dem Eimer. Es war ein kleiner Junge, und zum Dank für seine Rettung urinierte er fröhlich drauflos. Merdin konnte gerade noch rechtzeitig die Arme vor und zur Seite strecken.
Es dauerte nicht lange, da versiegte der Strahl. Merdin legte den Kleinen auf seine immer noch schön warme Tunika, deckte ihn gut damit zu und rieb ihn rasch, aber sanft trocken. Nebenbei prüfte er Atmung, Herztöne und Reflexe. Der Kleine ließ alles ruhig