Petra Wagner

Die weise Schlange


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schmale Pergament im Fenster gen Osten wechselte von Nachtblau zu einem tiefen Dunkelblau.

      Königsblau.

      Kornblumenblau.

      Trommeln begannen zu dröhnen wie Donner aus weiter Ferne.

      Ein dumpfer Schlag, ein zweiter, dritter …

      Schon krachten viele Schläge gegen die hüfthohe Tür. „Aufwachen, Initianten! Tagesanbruch! Frisch polierte Drachenschwerter harren eurer!“

      „Meister Akanthus?!“ Merdin riss die Augen auf und starrte gegen die Dachbalken. Verwirrt drehte er den Kopf - er war tatsächlich eingeschlafen, auf Vivianes Hinterteil. Hastig sprang er hoch, warf einen Blick abwärts … Gerade hatte er sich wieder an die Wand geflüchtet, da stand sein Meister bereits neben ihm und feixte.

      Akanthus‘ Lächeln wurde noch breiter, als er Viviane auf die Füße zog und ihr tief in die Augen schaute.

      „Gut, schön stehen bleiben, Vivian, und lächeln. Heute ist schließlich dein großer Tag. Was sollen deine Drachenbrüder und -schwestern von dir denken, wenn du durchs Spalier torkelst wie eine Betrunkene?“

      „Ich bin nicht betrunken, Akanthus, ich bin nur müde“, verbesserte Viviane und zog ihre fünf Zöpfe lang. „Ich kann prima gerade stehen, guck!“

      Sie schaffte es tatsächlich – trotz wild schwankender Lehmhütte –, gerade zu stehen. Akanthus schien das sehr zu amüsieren. Viviane hob neckend den Finger und kam prompt wieder ins Wanken.

      „Ja, lach nur, Akanthus! Sei froh, dass das Zeug aus der Öllampe verflogen ist, sonst würde ich mich bald über dich amüsieren. Obwohl, vielleicht ist noch ein winziges Tröpfchen …“ Den Blick hinauf zum obersten Deckenbalken hätte sie sich lieber sparen sollen, denn nun kippte sie vollends um.

      Akanthus stand schon zum Auffangen parat.

      „Immer mit der Ruhe, Töchterchen. Am besten konzentrierst du dich auf den Klang der Trommeln und deinen alten Meister, das hilft beim Austarieren von Körper und Geist. Ich hatte schließlich auch mal eine Initiation fürs Drachenschwert, wenn ich dich erinnern darf.“

      Sorgsam prüfte er Vivianes Stehvermögen mittels Schulterklopfen, dann hob er lachend die Hände und fuhr sich – da sie artig stehen blieb – durch seine Löwenmähne. „Nun ja.“ Nachdenklich betrachtete er den Silberanteil im Kupferrot seiner langen Haare. „Das ist zwar schon eine ganze Weile her, aber ich kann mich noch bestens erinnern. Genauer gesagt, ich kann mich an meine Wanderung zwischen den Welten erinnern. Daran, was hier passierte …“

      Er ließ seinen Blick von der Öllampe am Deckenbalken zu den Bärenfellen am Boden schweifen und klatschte in die Hände. „Gut, eure Zeit hier ist um und deshalb: Hurtig, hurtig, ab durch die Mitte, ihr beiden!“ Mit großer Geste deutet er auf die hüfthohe Tür.

      „Ducken nicht vergessen.“

      „Oh weh, ich sehe alles doppelt. Ich versuch es mal mittendurch“, seufzte Viviane und setzte sich schwankend in Bewegung. Merdin tappte stöhnend hinterher.

      Wer von ihnen mehr Schräglage hatte, war schwer zu sagen, doch kaum hatte sich Viviane unter dem niedrigen Türstock hindurchgebückt, fühlte sie sich besser. Die Morgenluft war mild, viel wärmer als gestern, und sie roch einfach wunderbar nach sprießenden Knospen, Blüten, Gras, goldener Wärme, neuem Leben …

      „Phänomenal.“ Genüsslich sog sie die Brise ein. „Jetzt habe ich schon zwanzig Lenze erlebt – zwanzig Mal Ostara, vier davon in Britannien, aber dieses fünfte hier … diese laue Luft, dieses üppige Grün und Blüten über Blüten auf weiter, weiter Flur!“ Bewundernd ließ Viviane ihren Blick schweifen.

      Gestern hatte auf der gesamten Wiese bis hinter zum Waldrand noch eine dünne Schneedecke gelegen. Heute blühten massenweise Schneeglöckchen und Primeln zwischen zarten Gräsern, alles erstrahlte in Weiß, Gelb und Grün so weit das Auge reichte, darüber ein Himmel in prachtvollem Gold-Blau.

      Dieser eine Tagesanbruch schien besonders und wie für sie gemacht. Er hatte nicht nur den Wandel in der Natur, sondern auch in ihrem Leben gebracht. Hier und heute hatte sie, Viviane, etwas erreicht, was sich nur wenige Menschen überhaupt zutrauten, und dieses Glücksgefühl durchströmte sie nun so stark, dass sie sich kaum bändigen konnte.

      Jauchzend breitete sie die Arme aus, tänzelte auf Zehenspitzen einmal im Kreis und warf den Kopf zurück.

      „Bei Ostara, wie herrlich! Schaut nur in diesen wunderbaren jungen Morgen! Azurblau mit Streifen aus Gold so zart …“

      Unwillkürlich betastete sie ihren Hals, an dem seit gestern ihre beiden Torques in Form von goldenen Schlangen prangten, und lauschte in sich hinein. Ihr Herz klopfte ruhig, ihre Augen sahen wieder bestens, sie stand fest auf ihren Füßen.

      „Ja, Vivian, dies alles hat der Südwind in einer Nacht geschafft.“ Merdin atmete tief ein, betastete ebenfalls seine Torques und ließ den Blick über Vivianes nackte Gestalt schweifen.

      Am liebsten hätte er mit ihren fünf langen, rotbraunen Zöpfen gespielt, seine Wange an ihre geschmiegt … Stattdessen reckte er sich ausgiebig, schob sich ein wenig näher an sie heran und begnügte sich mit der guten Sicht über ihren Kopf hinweg.

      So standen sie hintereinander, mit fast zwei Köpfen Höhenunterschied, die Hände an ihren goldenen Halsreifen, und schauten gen Osten in den klaren, beginnenden Morgen.

      „Was der Südwind hierzulande alles vollbringen kann …“ Viviane nickte in stummer Ergriffenheit und tastete nach Merdins freier Hand.

      Gemeinsam atmeten sie ein und aus, lauschten dem Säuseln des Windes, dem Dröhnen der Trommeln, dem Klopfen ihrer Herzen, hörten den Klang von wilder Sehnsucht.

      Hier und jetzt würde der letzte Abschnitt ihrer Initiation beginnen, die wohlverdiente Aufnahmefeier. Wie auch immer diese vonstattengehen würde – das hatte ihnen niemand verraten wollen. Doch Geduld war ihre Stärke. Sie hatten fünfeinhalb Jahre Heilkunst-Ausbildung absolviert und nebenbei die Kunst des Kampfes erlernt. Sie hatten ihre Prüfungen in Chirurgie, Kräuterkunde, Wundheilung, Arzneiherstellung und all den wichtigen Handgriffen bestanden, die ein voll ausgebildeter Arzt können musste. Danach hatten sie mit allen Sinnen und leerem Magen gegen riesige Krieger in dunklen Wäldern gekämpft, ihre Torques feierlich angelegt bekommen und nun ganz offenbar eine Nacht im Drogenrausch hinter sich gebracht. Was immer jetzt noch auf sie zukam – sie waren bereit.

      Das Lächeln rutschte ihnen zeitgleich aus dem Gesicht, als zwischen den Büschen am Ende der Wiese blaue Punkte auftauchten und einen Wimpernschlag später wieder verschwanden.

      Hastig trat Merdin an Vivianes Seite, und sie kniffen beide die Augen zusammen, um den Waldrand besser ins Visier nehmen zu können.

      Der Wald war von ihrem Standpunkt aus sehr weit weg, doch es gab keinen Zweifel: Dort im Unterholz, zwischen Bäumen und Sträuchern, sammelten sich nackte, blau bemalte Krieger. Drei, fünf, sieben … es wurden immer mehr … Männer, vielleicht auch Frauen, das war auf die Entfernung nicht erkennbar.

      Unvermittelt schlugen die Trommeln schneller und eine breite, blaue Woge ergoss sich aus dem Wald. Viviane und Merdin rieben sich die Augen, blinzelten hektisch, doch das Bild blieb: Da tobte ihnen eine wilde Kriegerhorde entgegen. Je näher sie kam, umso deutlicher sahen sie die einzelnen Kämpfer: Männer, Frauen, nackt und blau bemalt von Kopf bis Fuß, mit aufgetürmten Haarmähnen, Halsreifen aus Gold, Gürteln mit Waffen, Speeren, Lanzen … unter lautem Kriegsgeheul erstürmten sie die Wiese.

      Obwohl sie noch viel zu weit weg waren, wirbelten sie mitten im Lauf Steinschleudern über ihren Köpfen, rissen Pfeil und Bogen hoch, Speere, Blasrohre … Steine, Pfeile, Speere zischten durch die Luft, prasselten ins Gras, rammten sich ins Erdreich. Blasrohrpfeile spickten die Wiese vor ihnen wie mit Nadeln, doch diese weiß-blauen Wilden rannten einfach weiter, immer weiter, sprangen mit langen Sätzen über ihre eigenen Geschosse und johlten, brüllten, kreischten zum Donner der Trommeln – es war der schiere Wahnsinn. Merdin gähnte.

      „Einfach