Petra Wagner

Die weise Schlange


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      Ein paar Schritte trennten die beiden Seiten voneinander, überbrückt mit dem besten Metall, was es überhaupt gab: Eisen, nicht von dieser Welt. Meteoreisen. Völlig synchron rissen die Krieger ihre Langschwerter nun hoch und zogen noch einmal blank. Diesmal streckten sie mit dem anderen Arm die Kurzschwerter auf Brusthöhe. Der Raum zwischen beiden Seiten schien wie eine ewig lange Kluft, erfüllt von einem fernen Singen, das von Liedern vieler Schlachten kündete – alten und neuen, die erst noch kommen würden. Doch dieser Eindruck währte nur einen Atemzug lang.

      Mit einem lauten Aufstampfen rückten die Krieger vor und hoben die Kurzschwerter den Langschwertern entgegen, bis sie knapp unter diesen lagen wie ein Balken unter dem Dach. Und obwohl die Trommeln weiter schlugen, kehrte nun eine Ruhe ein, die nach dem schrillen Kriegsgeheul fast in den Ohren dröhnte.

      Viviane war mit einem Schlag hellwach.

      Die Stille lastete auf ihren Augen, ihren Ohren, ihren Händen, ja auf ihrem gesamten Körper, als würden alle Krieger auf ihren Schultern stehen; samt Schwertern wogen sie so viel wie ein ganzes Haus bedeckt mit Meteoreisen.

      Strahlend fasste sie Merdins Hand und drehte sich nach Akanthus um. Er nickte und Vivianes Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung.

      Als Viviane dem ersten Paar im Spalier entgegentrat, stiegen ihr vor Rührung Tränen in die Augen; sie verharrte unwillkürlich.

      Uathach lächelte ihr aufmunternd zu. Die ersten richtigen Sonnenstrahlen trafen ihre Schwerter, spiegelten sich auf den nächsten Klingen und sprangen weiter, immer weiter, bis die gesamte Strecke reflektierte. Es war, als höben Uathach und ihr Gegenüber ein gleißendes Prisma gen Himmel, ein Symbol aus Licht.

      Viviane blinzelte die Tränen weg und strahlte ihre Freundin an. Dann richtete sie den Blick gerade aus und machte den ersten Schritt, Seite an Seite mit Merdin. Beide hielten sie die Häupter stolz erhoben, genau wie Akanthus dicht hinter ihnen. Ja, auch er hatte allen Grund dazu.

      Seine Schlangentorques glänzten an seinem Hals, sein weißes Gewand umschmeichelte seine bloßen Füße und der Südwind erzählte jedem, der es hören wollte: Akanthus war der Sohn eines Königs, der oberste Lehrmeister beim Studium der Medizin und Anführer der Drachenkrieger. Es war eine Ehre für Viviane und Merdin, vor ihm zu gehen, über ihnen alles zerschlagende Schwerter und neben ihnen weiß-blaue Mauern aus Körper und Geist.

      Wie von selbst richtete sich Viviane zu ihrer vollen Größe auf und vergewisserte sich, ob über ihr genug Platz war. Sie schaute nur kurz zu den Schwertern hinauf, sie wollte nicht zaghaft erscheinen oder gar misstrauisch.

      Die Krieger rechts wie links standen vollkommen reglos und reckten die Klingen empor. Doch wenn auch nur einer ihnen feindlich gesinnt wäre, bliebe ihnen keine Chance. Obwohl, wozu trug sie einen Speer in der Hand? Und Merdin, als ihre linke Flanke, hatte gleich zwei.

      Das war es.

      Genau das sollte dieser Gang ihnen verdeutlichen: Sie mussten sich gegenseitig über den Weg trauen, mussten sich aufeinander einlassen, sich aufeinander verlassen können. Sie waren Elitekrieger der besonderen Art. Sie waren Druiden und Krieger in einem – gleichzeitig Bewahrer des Wissens und Verteidiger des Wissens. Eine Kombination, die so eigentlich gar nicht existieren dürfte, geboren aus purer Existenzangst und der Not, ihr Wissen mit aller Macht hüten zu müssen.

      Und tatsächlich: Ob Astronomen, Philosophen, Richter, Seher, Barden oder Ärzte wie Viviane, Merdin und Akanthus – sie waren eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, waren Brüder und Schwestern, waren bereit zu kämpfen.

      Es war ein erhabenes Gefühl, in ihrer Mitte zu gehen oder besser, in ihrer Mitte zu bleiben. Denn während sie immer weiter dem Waldrand entgegenstrebten, rannten die hinteren Krieger nach vorne und stellten sich wieder an. Vollkommen lautlos ging das vonstatten. Ohne Keuchen, ohne Klirren, nicht einmal sehen konnte es Viviane von ihrer Position aus. Es war eine ausgeklügelte Zurschaustellung von Kampfkraft, die aus der Luft betrachtet noch interessanter aussehen dürfte. Vielleicht wie eine dahinkriechende Raupe oder – passend für Drachenkrieger – eine Schlange in Bewegung. Nachdem Viviane das zehnte Mal an Uathach vorbeigekommen war, hörte sie auf zu zählen, schaute aber weiterhin in die Gesichter rechts und links. So viele der Frauen und Männer kannte sie noch gar nicht, doch es freute sie, wie viel ehrliches Interesse aus ihren Augen sprach.

      Merdins Initiation dürfte sogar eine gewisse Erwartungshaltung auslösen. Als Sohn des obersten Druiden hierzulande wurde er bereits jetzt als dessen Nachfolger betrachtet und einen besseren, das wusste Viviane, konnte es für dieses Amt gar nicht geben. Sein Vater, Guiderius, war mächtig stolz auf ihn und wuchs jedes Mal, wenn sie an ihm vorbei gingen, regelrecht in die Höhe.

      Vivianes Gedanken drifteten ab und sie sah ihre Brüder, Schwester, Mutter, Vater, Großmutter, Schwägerinnen, Nichte und Neffe vor sich. Was ihre Leute wohl jetzt gerade machten?

      Derart in sich selbst versunken, war Viviane beinah erstaunt, als sie ihren Fuß von Wiese auf Waldboden setzte und sich die Krieger in Windeseile zwischen Birken, Buchen, Eichen und Eschen verteilten. Obwohl diese noch keine Blätter trugen, war es zwischen den Bäumen merklich dunkler. Nun übernahm Akanthus die Führung und sie und Merdin folgten ihm einen kaum sichtbaren Pfad entlang.

      Immer tiefer schlängelte sich der Pfad in den Wald hinein, vorbei an Sträuchern, Stämmen, Büschen … und Viviane musste gut aufpassen, um nicht zu straucheln, denn sie fühlte sich schon wieder ein wenig schwindelig. Rasch richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Akanthus’ lange Haare und das lauter werdende Dröhnen der Trommeln. Die Anwesenheit der anderen Krieger, die zwischen den heiligen Bäumen hindurchhuschten, konnte sie nur erahnen.

      Prompt erinnerte sie sich an ihre eigenen Lektionen in Ausspähen, Flankendeckung, Geleitschutz … und schmunzelte vor sich hin.

      In diesem Moment trat Akanthus zur Seite. Mit sichtlicher Freude wies er auf einen See, der unerwartet vor ihnen lag, und aus Vivianes Lächeln wurde ein Strahlen.

      So einen schönen Waldsee hatte sie noch nie gesehen. Klares Wasser, eingebettet in dicke Moospolster, zierliche Gräser und Nussbäume über Nussbäume, jeder für sich einzigartig in Höhe und Form – eine große Familie, Jahrhunderte alt.

      Fasziniert betrachtete sie die winzigen Sprösslinge, die schlanken Stämme, die knorrigen Baumriesen, den glitzernden Wasserspiegel in ihrer aller Mitte und hauchte: „Wunderbar.“

      „Wohl wahr, dies ist magisches Land“, flüsterte Merdin. „Dem Unwissenden für immer verborgen.“

      „Dies, meine Kinder, ist der See der Erkenntnis. Hier sind die Götter zum Greifen nah“, raunte Akanthus hinter ihnen und schob sie sachte vorwärts. „Taucht ein in unsere heilige Stätte, haltet die Augen offen und erkennt. Wir sehen uns auf der anderen Seite.“

      Viviane und Merdin drehten sich zu ihm um und nickten feierlich. Dann legten sie ihre erbeuteten Waffen nieder und stiegen Seite an Seite in das kristallklare Wasser.

      Sofort kroch Eiseskälte an Viviane hinauf, doch das machte ihr nichts aus. Hierzulande war sie schon oft in der kalten Jahreszeit baden gewesen – einfach so, ohne davor ein Schwitzbad genommen zu haben. Zu Hause hätte sie sich strikt geweigert, hier legte sie die Hände zusammen und stürzte sich kopfüber ins Abenteuer.

      Kaum war sie unter Wasser, öffnete sie die Augen und bewegte sich mit kräftigen Schwimmstößen abwärts. Der Weg bis zum Grund war weit, viel weiter als gedacht und Merdin, dicht neben ihr, deutete energisch nach unten. Im Takt der Trommeln tauchten sie tiefer und betrachteten das Leben um sich herum mit großen Augen. Den Grund des Sees erreichten sie nicht, da sie wie aus dem Nichts von einem Sog erfasst wurden, dem sie viel Kraft entgegensetzen mussten, um nicht mitgerissen zu werden. Seltsamerweise schien ihnen das weit entfernte Dröhnen der Trommeln zu helfen, ließ sie ruhig bleiben. Erst, als ihnen wirklich die Luft knapp wurde, bahnten sie sich einen Weg zurück ans Licht.

      Kaum stießen ihre Köpfe durch die Oberfläche, schnappten sie lachend nach Luft. Sie waren am Ufer angelangt, genau vor Akanthus.

      Hinter ihm hatten sich die Krieger versammelt, diesmal jedoch nach Geschlechtern