er sich bloß für etwas derart Normales schämte? Kopfschüttelnd schwang sich Viviane über Dinas Hinterteil, breitete ihren Mantel auf dem warmen Gras aus und holte den Wasserschlauch von Arions Rücken. Sie füllte ihr Trinkhorn und reichte es Hanibu, die ohne ihre Hilfe und wie es sich gehörte abgestiegen war, erst danach trank sie selbst. Nebeneinander legten sie sich auf den Mantel und Hanibu bot ihren eigenen als Zudecke an, doch Viviane war es warm genug. Also zog Hanibu den dicken Wollstoff für sich allein bis unters Kinn und sah auf einmal sehr jung aus, wie sie da gen Himmel starrte. Viviane entging ihr ängstlicher Blick nicht.
„Das Wetter wird besser werden“, versicherte sie. „Schau, die Schwalben fliegen hoch!“ Welch eine Erleuchtung! Eigentlich wollte sie ja nur das Gespräch in Gang bringen und etwas um den heißen Brei herumreden.
Hanibu nickte seufzend. Sie vertraute Viviane, obwohl sie sich erst einen Tag kannten.
„Es ist schön hier. Anders als mein Land, aber es gefällt mir. Es ist bloß … ich habe etwas Angst vor den Menschen, davor, wie sie über mich denken. Ich sehe ganz anders aus als sie und noch dazu bin ich eine … eine …“
„Keine Bange, nur Mut. Du wirst sehen, meine Leute werden dich gut aufnehmen. Sei ganz zuversichtlich. In jeder Herde gibt es schließlich ein schwarzes Schaf, und jetzt haben wir endlich auch eins. Und was für ein niedliches Hanibeerchen!“ Viviane zwickte ihr neckend in die Nase.
Hanibu konnte gar nicht anders, sie musste lachen, und schon kicherten beide wie kleine Mädchen.
„Das mit dem schwarzen Schaf ist übrigens nicht böse gemeint, im Gegenteil. Es gibt wirklich meist ein oder zwei Schafe mit dunkler Wolle, während alle anderen helle haben, und …“ Viviane hob Achtung heischend den Zeigefinger. „Schafe sind enorm wichtige Tiere für uns. Sie bedeuten nicht nur Fleisch und Milch und Wolle, sondern sie stehen auch für Fruchtbarkeit. Und Fruchtbarkeit ist nicht nur wichtig, sie ist überlebenswichtig für uns. Nimm zum Beispiel unser erstes Mondfest im Jahr, Imbolg. Imbolg wird gefeiert, wenn die Mutterschafe nach dem langen Winter wieder Milch geben, weil sie bald ihre Lämmer gebären werden. Ein wahrhaft frohes Ereignis. Vielleicht werde ich später auch mal als solch ein niedliches, flauschiges Lämmchen wiedergeboren – oder du, wer weiß? Stell dir vor, Hanibeerchen: Du und ich auf der Weide als Schafe, wie wir genüsslich den Löwenzahn kauen. Und was für eine Wolle wir abgeben würden! Daraus macht meine Mutter die feinsten Kleider in Schwarz-Weiß. Na, wohl eher Dunkelbraun-Milchweiß, aber egal, jedenfalls könnte man darauf prima Fidchell spielen. Ich höre schon die Rufe der Händler: ‚Fidchell spielen, wann immer ihr wollt! Ob Sommer oder Winter, leicht und luftig oder dick und wärmend!‘“ Übermütig tätschelte Viviane ihren Mantel. „Aber erst mal müssen wir zwei ganz viel Löwenzahn kauen, bis es uns aus dem Maul hängt! Guck, so, ich mach mal vor!“ Kopfüber stürzte sich Viviane ins Gras.
Hanibu quietschte vor Vergnügen.
Laut blökend verspeiste Viviane ein riesiges Büschel Löwenzahn – natürlich nicht wirklich, die Blätter waren für ihren Geschmack zwar zart genug, aber sie hatte auch ein paar Stängel erwischt; daher musste sie prusten und spucken, bis sie das Grünzeug wieder aus dem Mund bekam. Nebenbei wischte sie sich eifrig Lachtränen aus den Augen und freute sich über den Erfolg von so viel Blödsinn, denn Hanibu japste und schnaufte vor Lachen, und auch sie selbst musste tief Atem schöpfen, um sich wieder zu beruhigen.
Mit einem Ruck saß Viviane gerade und sog noch einmal prüfend die Luft ein.
„Riechst du das auch?“
Hanibu schnupperte. „Ich rieche nur Wiese. Was meinst du?“ Sie sah sich um und rückte dichter an Viviane heran.
„Es windet wie Wildschwein.“ Viviane steckte den Zeigefinger in den Mund, hielt ihn in die Luft und zeigte zum Waldrand. „Das kommt eindeutig von dort, wo Loranthus verschwunden ist.“
„Du gibst auch einen prima Hund ab, wenn es mit dem Schaf nichts wird“, gluckste Hanibu.
„Ich mach keinen Quatsch, es ist sehr ernst, Hanibu. Wildschweine flüchten zwar lieber, wenn man ihnen zu nahe kommt, aber die Sauen haben jetzt gerade Nachwuchs. Da kennen die weder Freund noch Feind und greifen an.“
„Du meinst, sie könnten Loranthus töten?!“ Hanibu schlug die Hände vor den Mund.
Viviane sprang auf und befahl: „Du bleibst bei den Pferden. Wenn etwas schiefgeht, steigst du auf Dina und reitest, so schnell du kannst. Sie kennt den Weg, Arion wird ihr folgen.“
„Was meinst du mit ‚schiefgeht‘? Was hast du vor?!“
„Erstens: Wenn die Sau in deine Richtung läuft. Zweitens: Ich werde Stachelbeere suchen.“
Hanibu verstand nicht ganz, doch Viviane rannte schon und so musste sie selbst eins und eins zusammenzählen. Rasch hob sie die Mäntel auf, stellte sich zu den Pferden und schaute Viviane nach, die zwischen ein paar Büschen verschwand.
Ohne den Blick von dieser Stelle zu lassen, wickelte sich Hanibu in ihren Mantel und versuchte, ihn mit der Fibel zu fixieren. Es gelang ihr erst beim dritten Versuch, die Nadel durch den dicken Filz zu stechen und festzuklemmen, ihre Finger zitterten. Jetzt war sie ganz allein in einer fremden Welt und sie konnte nur eines tun: ihren uralten Gott, Sama, bitten, Viviane und Loranthus wohlbehalten zurückzuschicken.
Inbrünstig presste Hanibu die Fäuste an ihre Lippen und rief ihn an, denn wenn einer ihre Bitte erhörte, dann ‚der Hörende‘ selbst. Um sich selbst hatte sie keine Angst. Sie konnte mit den Pferden fliehen. Aber was wollte ihre Freundin tun, wenn die Sau auf sie zukam?
Viviane bewegte sich gegen den Wind, denn Wildschweine konnten bestens riechen, auch wenn sie nicht besonders gut sahen. Sie hingegen tat sich gerade mit beidem schwer; im Wald war es viel komplizierter, dem Geruch zu folgen und gleichzeitig nicht über Loranthus zu stolpern. Mit seinen neuen Kleidern in Braun und Grün-Gelb war er zwischen all den sprießenden Bäumen und Sträuchern und dem alten Laub auf regenfeuchtem Boden bestens getarnt. Obwohl, so weit konnte er eigentlich nicht gegangen sein, schließlich hatte er es eilig und dürfte sich hinter den erstbesten Sichtschutz gehockt haben.
Argwöhnisch fuhr Viviane herum und musterte den Waldrand, dann ging sie weiter und lugte hinter jeden Busch, jeden dicken Baum, bis sie zu extrem dichtem Unterholz kam. Vor diesem Gestrüpp hätte Loranthus garantiert haltgemacht, doch als Unterschlupf, als Kessel für Frischlinge, war es geradezu ideal.
Leise postierte sie sich hinter einer alten Eiche, kniff die Augen zusammen und spähte ins Zwielicht.
Die Sonnenstrahlen schienen mit den spärlichen Blättern zu tanzen, sanft wiegten sich Gräser im Wind, Bienen summten von Blüte zu Blüte, ganze Teppiche von Waldmeister und Buschwindröschen bedeckten den Boden. Die Düfte waren derart intensiv, dass sie sogar den überdeckten, der ihr wichtig war.
Sorgfältig prüfte sie noch einmal die Windrichtung, bevor sie weiter schlich. Es ging einigermaßen, im Gegenwind zu bleiben und regelmäßig den Geruch zu kontrollieren – zu dumm nur, dass sie vergessen hatte, den Wasserschlauch abzuhängen. Nun musste sie ihn fest an sich pressen, damit es darin nicht gluckerte.
Abrupt blieb Viviane stehen. Der Geruch nach Wildschwein wurde stärker. Sehen konnte sie noch nichts, aber das war gut für ihren Plan.
Bedächtig öffnete sie eine ihrer vielen Gürteltäschchen, fischte eine Holzdose heraus, zog sie auseinander und kippte einen grauen Flaum heraus. Diesen knautschte sie ein wenig in der Hand, während sie im Bogen weiterging, sich in den Wind hinein bewegte … sachte, ganz sachte, bis er von hinten kam und der Flaum in ihrer Hand vom Sog ergriffen wurde. Rasch knautschte sie ihn stärker, hielt ihn in den Wind und schaute sich nebenbei um.
Drei Schritt rechts von ihr ragte eine Hainbuche in die Höhe, zehn Schritt vor ihr ein wild wucherndes Himbeergestrüpp. Falls die Sau wider Erwarten dort herausbrechen sollte, musste sie schnell sein; die Hainbuche war nicht ideal, sah aber recht stabil aus.
Natürlich hoffte sie, dass dieser Notfall nicht eintreten würde.
Sanft strich sie über