Ernst Langthaler

Agro-Food Studies


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gegen Spekulation und Preisfluktuation.

      Die Krise in Mexiko dürfte durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren hervorgerufen worden sein: steigender globaler Bedarf, auch getrieben durch die forcierte Produktion von Agrotreibstoffen aus Mais in den USA, Spekulationen auf internationalen Märkten, die Import-abhängigkeit Mexikos sowie Machtkonzentrationen in Teilen der Wertschöpfungskette. Preisschocks in internationalen Lebensmittelmärkten zeigen die Verletzlichkeit von Ländern, die stark von Lebensmittelimporten abhängig sind. Besonders verletzlich gegenüber Preisschwankungen bei Grundnahrungsmitteln sind die Ärmsten, die den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel aufwenden müssen (vgl. Abb. 3.4).

      Der globalisierungsbedingte Strukturwandel in weiten Teilen Europas machte sich in den letzten Jahrzehnten auch außerhalb der Landwirtschaft durch den Verlust von Arbeitsplätzen bemerkbar. So gingen z. B. in den kleinstrukturierten Betrieben der Lebensmittelverarbeitung allein zwischen 1970 und 1999 etwa die Hälfte der Arbeitsplätze verloren (Favry et al. 2004). Ebenso wurden Einzelhandelsstandorte aufgelassen, sodass viele ländliche Gemeinden über kein eigenes Lebensmittelgeschäft mehr verfügen.

      Durch globalisierte Wirtschaftsbeziehungen können transnational agierende Unternehmen divergierende Sozial- und Umweltstandards sowie Steuervorteile in unterschiedlichen Ländern auszunutzen. Für kleinere, regional verankerte Betriebe steigt der Konkurrenzdruck, da sie mit hohen Arbeitskosten, Sozialversicherungsbeiträgen, Steuern und Umweltauflagen konfrontiert sind. Jene, die diesem Druck nicht standhalten, geben auf. Andere versuchen, Ausnahmen von Sozial- oder Umweltauflagen durchzusetzen, indem sie den Druck an die Politik weitergeben und drohen, die Produktion zu schließen oder in ein anderes Land zu transferieren. Handelsabkommen, aber auch durch unterschiedliche Produktionsauflagen verzerrte Wettbewerbsbedingungen können so zur Nivellierung hart erkämpfter nationaler Umwelt- und Sozialstandards beitragen (race to the bottom).

      Transportstromanalysen zeigten, dass die für die Lebensmitteldistribution zurückgelegten Kilometer (Transportleistung der gesamten Kette) in den letzten Jahrzehnten um mehr als das Doppelte stiegen, während sich die Menge der transportierten Güter nur geringfügig erhöhte (Favry et al. 2004). Das heißt, das Essen legte wesentlich längere Wege „vom Feld zum Teller“ zurück (für ein konkretes Beispiel siehe Box 3.3). Mehr zu Umweltwirkungen des Transports ist im Abschnitt 4.3.1 nachzulesen.

      Lastkraftwagen transportieren regelmäßig gekühlte Nordseekrabben 6000 km bis nach Marokko und zurück. Dadurch lässt sich das arbeitsintensive Schälen der Krabben nach Marokko auslagern. Die Transportkosten fallen im Vergleich zu den Ersparnissen aufgrund der geringen Arbeitskosten in Marokko kaum ins Gewicht. Nur durch die Ausnutzung des Lohngefälles zwischen Deutschland und Marokko können deutsche KonsumentInnen so preisgünstig ‚heimische‘ und ‚frische‘ Nordseekrabben erwerben.

      In Reaktion auf die Globalisierung der Lebensmittelversorgung und aus dem Wunsch nach überschaubareren Strukturen, der sich oftmals gerade nach medial aufbereiteten Lebensmittelskandalen breitmacht, versuchen AktivistInnen, einzelne Betriebe und regionsübergreifende Initiativen die Lebensmittelversorgung ‚wieder‘ stärker in regionale Sozialstrukturen einzubetten (siehe Kapitel 9). Neben der Wiederbelebung von Wochenmärkten oder dem Ab-Hof-Verkauf und Bauernläden verbreiten sich auch alternative Formen regionaler Lebensmittelversorgung, wie etwa die ‚Biokiste‘ (eine regelmäßig zugestellte Auswahl an saisonalem, biologisch produziertem Obst und Gemüse), die solidarische Landwirtschaft (vgl. Box 3.4) oder Lebensmittelkooperativen (Box 3.5). Auch globale Initiativen wie die → slow-food-Bewegung oder Via Campensina tragen zur Bewusstseinsentwicklung bei und stärken kurze qualitätsorientierte Warenketten in den Regionen.

      Im Vergleich zu globalen Produktionssystemen sind regionale Warenketten kürzer und zeichnen sich durch die geografische und/oder soziale Nähe vergleichsweise weniger Betriebe und Personen aus. Noch weniger AkteurInnen umfasst nur die → Prosumption (siehe Abschnitt 9.5.3). Beim Selbstanbau in Eigen- und Gemeinschaftsgärten bzw. in Selbsternteprojekten erfolgen Produktion und Konsum durch dieselbe Person.

      LebensmittelaktivistInnen und vermehrt auch Marketingabteilungen des Lebensmitteleinzelhandels verknüpfen Regionalität argumentativ mit sozialer Nähe, mit Mitsprachemöglichkeiten bei der Definition von Qualitätsstandards (→ Ernährungssouveränität, Kapitel 9) oder mit der Förderung ‚authentischer‘, an die regionalen naturräumlichen und soziokulturellen Verhältnisse angepasster Lebensmittel und konstruieren damit Versprechen, die weit über kürzere Transportwege und entsprechende Klimaeffekte hinausgehen. Sie implizieren kausale Verknüpfungen zwischen der „Wo-Frage“ und der „Wie-Frage“, die so faktisch nicht bestehen (Ermann 2015).

      Ohne Rechtsdefinition wird Regionalität bei Lebensmitteln sehr unterschiedlich interpretiert und lässt je nach Interessenlage viel Definitionsspielraum (Hinrichs 2003; Ermann 2005; Sonnino 2013). Dass Regionalität sehr subjektiv ist, zeigen auch VerbraucherInnenbefragungen. Während einige den Begriff „regional“ sehr eng auf die nähere Umgebung mit einer maximalen Entfernung oder den Landkreis/Kanton/Bezirk festlegen, bestimmen ihn andere mit den Grenzen des Bundeslands oder des Nationalstaats. Viele assoziieren mit Regionalität aber auch eine kurze Wertschöpfungskette, direkte Interaktion mit den ProduzentInnen, Wissen über die Herkunft, bessere Qualität oder höhere soziale und ökologische Produktionsstandards. Hier seien beispielhaft vier überlappende, teilweise aber auch widersprüchliche Definitionsinhalte veranschaulicht:

      imagesLebensmittel, bei denen die KonsumentInnen die Bedingungen von Produktion, Verarbeitung oder Vertrieb mitbestimmen können (selbstproduzierte Lebensmittel, Lebensmittelkooperativen, solidarische Landwirtschaft; siehe Box 3.4).

      imagesLebensmittel persönlich gut bekannter ProduzentInnen, die den KonsumentInnen sozial (aber nicht unbedingt räumlich) nahestehen (die Marmelade der Großeltern oder der Schnaps des befreundeten Bauern am Urlaubsort).

      imagesLebensmittel, die in räumlicher Nähe produziert, verarbeitet und konsumiert werden; die räumliche Nähe definiert sich über einen bestimmten Kilometerumkreis (z. B. max. 50 km), die Länge der Transportwege entlang der gesamten Warenkette oder die Zugehörigkeit zum selben soziokulturellen Identifikationsraum (z. B. aus demselben Bundesland).

      imagesLebensmittel mit Herkunftsnachweis, die u. U. auch für internationale Märkte und weit entfernte KonsumentInnen produziert werden (z. B. rechtlich geschützte Herkunftsbezeichnungen wie Schweizer Gruyère oder Steirisches Kürbiskernöl) (siehe Abschnitt 3.4.3).

      Mitglieder, die üblicherweise in einem Verein organisiert sind, schließen mit Bäuerinnen und Bauern einen Vertrag ab, in dem sie sich verpflichten, die kalkulierten Kosten für die Jahresproduktion inklusive eines ausgehandelten Stundenlohns für die anfallenden landwirtschaftlichen Tätigkeiten anteilig zu bezahlen. Im Gegenzug erhalten sie einen entsprechenden Anteil der Ernte, der je nach Wetter und Bewirtschaftungsgeschick unterschiedlich groß ausfallen kann. Die Risiken von Missernten werden so zumindest teilweise